: „Diskussionen sind Quatsch“
Ortsbesichtigung: Die Oase experimenteller Poesie im Büro des ehemaligen DDR-Oberzensors liegt bald mitten im Regierungsviertel – Das Autoren-Kollegium Orplid & Co. im Café Clara ■ Von Stefan Bruns
Zu den wenigen wahr gewordenen Träumen der Wendezeit, die nicht zerstoben sind, gehört, daß im Hause des ehemaligen DDR- Oberzensors Höpcke das Autoren-Kollegium Orplid & Co. seinen Firmensitz genommen hat. „Orplid“, Mörikes fiktive Insel der Sehnsucht, liegt seitdem nicht mehr im Stillen Ozean, sondern exakt in der Mitte zwischen dem Reichstag und der US-amerikanischen Botschaft.
Hier, mitten im künftigen Regierungsviertel, ist die Insel der Ruhe, wo „& Co.“ zu hören sind: die Lyriker und Poeten, die Brigitte Endler ins Café Clara lädt. Aus Prenzlauer Berg und aus Manhattan, aus Wien und Kreuzberg kommend, lesen sie, mehr noch: inszenieren sie ihre Lesungen von Poesie und poesienahen Texten.
Das Café betritt man im Parteterre eines Altberliner Fabrikgebäudes mit Durchblick auf einen übermächtigen Plattenbau, vor dem sich das Gartencafé mit Sommerküche winzig ausnimmt. Im ersten Stock, auf dessen Gängen man noch den stickigen Mief der „Hauptverwaltung Literatur und Verlage“ atmet, hat Orplid e.V. die Inselverwaltung in einem einzigen kleinen Büroraum untergebracht.
Im April 1991 stellten Brigitte Endler, Dorothea Oehme sowie die beiden LyrikerInnen Adolf Endler und Elke Erb „Orplid e.V. – Gesellschaft zur Pflege und Förderung der Poesie“ der Öffentlichkeit vor: Sie luden Karl Mickel und Oskar Pastior zum „Duett oder zum Duell“. Womit nicht nur ein selten hoher Anspruch markiert wurde, die „Schärfung des Geschmacks und des Bewußtseins“, sondern – durch die Konkurrenzsituation – auch eine besondere Qualität der Vortragskunst verlangt wurde.
Miteinander traten so gegensätzliche Dichter auf wie Thomas Böhme und Jan Koneffke, F.C. Delius und Jürgen Theobaldy, Wolfgang Hilbig und Peter Rosei. Im besten Winkel der Erinnerung blieben aber auch die Lesung von Giwi Margwelaschwili und das vielversprechende Debüt des jungen Milo Schwager aus Basel. An die hundert Autoren kamen inzwischen schon zu Wort.
Die Poesie soll, ja muß für sich selber sprechen. „Es ist nicht so“, betont Brigitte Endler, die das Programm gestaltet, „daß wir bei lebenden Autoren eine Diskussion machen, das finden wir Quatsch.“ Der Autor soll nicht nach dem Gedicht noch einmal erklären, was er eigentlich sagen wollte. Denn experimentelle Lyrik, „wo was los ist“, stellt Orplid vor, nicht Gebrauchs- und Liebeslyrik à la Wondratschek. Sagt Brigitte Endler ohne Avantgardetümelei, bescheiden und begeistert.
Die Schweizer Autorin Ilma Rakusa hatte ein fiktives Gespräch mit Elke Erb über Lyrik publiziert. Was lag näher, als Erb und Rakusa an einen Tisch zu bitten und das Gespräch real vor Publikum führen zu lassen? Brigitte Endler schwärmt: „Da schwebte etwas, wie soll ich sagen, es hob ab, es gab Momente, da fing alles an zu flirren. Das könnte man mit dieser vergegenständlichten Lyrik nicht einfangen. Aber bei Orplid wird so was vorgestellt.“
Eine solche Lyrikbegeisterung gab es früher nur in der DDR, dem Westen war sie abhanden gekommen. Orplid versteht sich zwar nicht als direkte Fortsetzung jener oft verklärten „Notgemeinschaft“, der „Szene“. Aber der Enthusiasmus, der dem Bewußtsein entspringt, daß Poesie bei aller Theatralik ernstzunehmende Antworten auf die Fragen der Gegenwart gibt, ist hier noch zu spüren.
Mit bescheidenen Mitteln – kaum 15.000 Mark öffentliche Zuschüsse – entsteht hier ein feines Programm. „Man braucht keine Millionen“, schließt Brigitte Endler, „und kann doch 'ne Menge machen.“ Das Lese-Honorar für die Autoren beträgt 400 Mark. „Autoren, die 1.000 Mark verlangen, können wir nicht nehmen. Es gibt aber auch Autoren, die, obwohl sie woanders mehr kriegen, bei Orplid lesen.“ Etwa der Amerikaner Allan Ginsberg, auf dessen Aufwartung Orplid besonders stolz ist. Er bekam dasselbe Honorar wie jeder andere. Und hat gesungen und gelesen.
Natürlich spielen die langjährigen internationalen Kontakte von Elke Erb und Adolf Endler eine entscheidende Rolle. Aber auch Sieglinde Geisel, die junge Schweizer Literaturkritikerin im Orplid- Vorstand, und Brigitte Endler bringen interessante Autoren in die Clara-Zetkin-Straße. Brigitte Endler führte neun Jahre lang in Leipzig einen Literaturklub – Monika Marons einzige Lesung in der DDR fand dort statt, auch Christian Döring und Bert Papenfuß traten auf. Solche Vorgeschichte mag erklären, daß das Orplid-Publikum nach wie vor zu gleichen Teilen aus Ost und West herbeiströmt, während sie in anderen Literaturorten sich längst wieder völlig separiert haben.
Die Zukunft für Orplid ist ungewiß. Der ungesicherte Status des Vereins wie seiner drei Mitarbeiter wird regelmäßig zum Problem. Enden die AB-Maßnahmen, steht die Kontinuität des Ganzen in den Sternen. Aber Brigitte Endler resigniert nicht. „Wie ich mich kenne, und ich bin ein Workaholic, wäre das keinesfalls das Ende von Orplid & Co.“
Ursprünglich sollte der Bundesrat in das kernsanierte Gebäude ziehen. Hieß es vor einem Jahr noch, maximal bis Ende 94 könne Orplid bleiben, gilt jetzt wohl eine längere Gnadenfrist. Brigitte Endler denkt von Halbjahr zu Halbjahr. Die Zusammenarbeit mit der Wirtin des Cafés, Ruth Hammer, ist aber so gut, daß sogar ein gemeinsamer Umzug erwogen wird.
Aber aus der näheren Umgebung will sich Orplid nicht verdrängen lassen. Auch wenn die Regierung in der Nachbarschaft ist – über die Einführung einer montäglichen Beamten-Lesung ist noch nicht entschieden worden. Mittwochs Minister-Lyrik und zum Wochenende Kanzlerwitze? „Lyrik in den Bundestag“, forderten die Endlers unlängst im tip.
Doch bevor es so weit kommt, steigt hoffentlich noch manches Lyrik-Duett in den Himmel über Berlin oder wird als politisches Duell im Café Clara ausgefochten.
Der nächste Orplid-Abend gilt Bulgarien: „Poesie der Nachbarn“, und findet am 28.10. statt, 20 Uhr, im Café Clara, Clara-Zetkin-Straße 90, Mitte.
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