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Taschengeld und Schorf

Roddy Doyles Kindheitsroman aus dem irischen Arbeitermilieu  ■ Von Walter Klier

Seinen ersten Roman hat er selbst verlegt, für den vierten bekam der 1958 in Dublin geborene Roddy Doyle im Jahr 1993 den angesehensten englischen Literaturpreis, den Booker Prize. Seine Romane „The Commitments“ und „The Snapper“ wurden mittlerweile von Alan Parker und Stephen Frears erfolgreich verfilmt. Doyle hat es also geschafft, und das in kurzer Zeit und, wie der Rezensent (der sonst die Karrieren von Altersgenossen mit größtmöglichem Mißtrauen verfolgt) in diesem Fall ganz neidlos feststellen darf, zu Recht. Nun ist also Doyles preisgekrönter vierter Roman auf deutsch erschienen. Vorweg gleich: Die Übersetzerin hat ihren Teil dazu beigetragen, daß die ungetrübte Freude, die der Rezensent bereits letztes Jahr beim Lesen des englischen Originals empfand, auch bei der deutschen Version anhielt.

Doyle erzählt in „Paddy Clarke Ha Ha Ha“ aus dem gewöhnlichsten Milieu, das heutzutage in Europa aufzutreiben ist. Er erzählt von der unteren Mittelschicht, die sich am Stadtrand so gerade eben ein Einfamilienhaus in einem eben entstandenen Viertel leisten kann und in deren Leben sich so gar nichts von Belang ereignet, außer daß die Eltern, nachdem alle vier Wunschkinder richtig auf der Welt sind und teils schon in die Schule gehen, einander zunehmend weniger leiden können. Berichtet wird konsequent aus der Perspektive des etwa zehnjährigen (ältesten) Sohnes der Familie. Er trägt den schönen irischen Namen Patrick, und für sein Lebensalter und dieses Land offenbar unausweichlich, teilt er seiner Mutter eines Tages mit:

„– Ich habe eine Berufung.

Sie schnappte nach Catherine.

– Hast du mit dir gesprochen? fragte sie.

Komische Frage.

– Nein, sagte ich. – Ich will Missionar werden.

– Das ist brav, sagte sie, aber nicht so, wie ich es gern gehabt hätte. Ich wollte, daß sie weint. Ich wollte, daß Pa mir die Hand schüttelt. Ich sagte es ihm, als er von der Arbeit kam.

– Ich habe eine Berufung, sagte ich.

– Dazu bist du viel zu jung.

– Nein, echt. Gott hat zu mir gesprochen.

Irgendwas war schiefgegangen.“

Patrick nennt seinen jüngeren Bruder Francis, der sein Essen nie aufißt, wie das jüngeren Brüdern eigen ist, Sinbad, treibt mit seinen Altersgenossen jeden nur denkbaren Unfug, ist so altklug, wie ein ältester Bruder sein muß, lernt den Kitzel der häßlichen Wörter kennen (das allerhäßlichste und wundervollste Wort ist natürlich „Fick“), nimmt seinen ersten tiefen Zug aus einer starken Zigarette, der ihm so richtig das Wasser in die Augen treibt, findet die Erwachsenen nicht böse, sondern bloß eher seltsam, und protokolliert mit trockener Genauigkeit, was den lieben langen Tag so geredet wird bei den Versuchen, mit den undurchsichtigen Absichten und Strategien der Erwachsenen zu Rande zu kommen – etwa wenn Paddy und sein Bruder einen Hund möchten, der Vater aber nicht.

„– Warum können wir keinen Hund haben? fragte ich Pa.

– Willst du ihn füttern? sagte er.

– Jaha.

– Und das Futter bezahlen?

– Jaha.

– Womit?

– Geld.

– Mit was für Geld?

– Mit meinem. Taschengeld, schob ich rasch nach.

– Mit meinem auch, sagte Sinbad.

– Ich würde Sinbads Geld nehmen, aber es würde trotzdem mein Hund sein. [...]

– Okay, sagte Pa.

– Das hieß nicht okay, ihr könnt einen Hund haben, sondern, okay, ich krieg euch noch.

– Der Schmutz, sagte er.

– Wir passen auf, daß er sich die Pfoten abwischt.“

Daß einem das bei der Lektüre immer wieder unkontrollierbar aufflammende Gelächter zum Ende hin vergeht, ist fast nur ein Nebeneffekt dieses wunderbaren Buches, einer Gesamtdarstellung von Kindheit. Doyle vermeidet mit traumhafter Sicherheit die vielen kleinen Fallgruben, in die der pädagogische Affekt auch die besten Erzähler tappen läßt.

Der Rezensent muß sich zurückhalten, nicht das ganze Buch herunterzuzitieren, weil alles darin so stimmt: „Beim Schorf wartete ich eigentlich immer, bis er soweit war, man durfte es dabei nicht zu eilig haben. Ich wartete, bis er sich gelockert hatte und sich die Kruste schon ein bißchen vom Knie abhob. Dann kriegte ich ihn im ganzen weg, und unter dem Schorf war kein Blut, sondern nur eine rote Stelle; die geheilte Haut. Den Schorf machten die Blutkörperchen. Jeder von uns hat fünfunddreißig Milliarden Blutkörperchen, durch die kommt der Schorf, damit der Mensch nicht verblutet.“ Wenn man den englischen Kommentatoren glauben kann, so sind die Booker-Preis-Juroren des Jahres 1993 bei der Wahl Roddy Doyles über ihren Schatten gesprungen, als sie so ein leichtes, heiteres Buch krönten. Auch in Britannien, auf diesen seligen Eilanden, gibt es offenbar genug einflußreiche Personen, die dafür sorgen, daß literarische Preise für Gelehrsamkeit, für moralische Zeigefingergymnastik oder das raffinierte Vorherplanen literaturkritischer Reflexe verliehen werden. – Aber manchmal eben doch für die gelungene Kunstanstrengung, die es bedeutet, einem naturgemäß intelligenten, gebildeten, aber doch vergnügungs- und lachsüchtig gebliebenen Leser Stunden reinster Erbauung zu bescheren.

Roddy Doyle: „Paddy Clarke Ha Ha Ha“. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. Wolfgang Krüger Verlag, 286 Seiten, geb., 39,80 DM

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