: Määnneer, Frauueen, Wüüürstchen!!!
Früher war der „Tangler“ für den Rinderhandel zuständig – seit 150 Jahren vermittelt er jeden September im Dorf Lisdoonvarna an der irischen Westküste Bekanntschaften und Hochzeiten ■ Aus Lisdoonvarna Ralf Sotscheck
Unter dem Bauwagen läuft in drei schmalen Rinnsalen die Pisse hervor und fließt die Straße hinunter. Ein paar Minuten später kommen drei Männer hinter dem hölzernen Wagen hervor und drängeln sich in die Menschentraube, die vor dem benachbarten Imperial Hotel in Lisdoonvarna nachts um eins ungeduldig auf Einlaß wartet.
Weil der Tanzsaal des Hotels jedoch hoffnungslos überfüllt ist, läßt der „Bouncer“, der allmächtige Türhüter mit dunklem Anzug und Fliege, nur genauso viele Leute hinein, wie aus dem Saal herauskommen. Wer im Hotel eine Übernachtung mit Frühstück gebucht hat, muß sich durch die Menge zwängen und dem Türsteher Namen und Zimmernummer nennen. Hat er beides auf seiner Liste, öffnet er die Tür einen Spalt, durch den man – begleitet von neidischen Zurufen der Wartenden – hindurchschlüpfen darf.
Vor den anderen sechs Hotels an der Hauptstraße ist es nicht anders. In Lisdoonvarna, einem 500-Seelen-Ort an der irischen Westküste, findet jeden September das „Matchmaking Festival“ statt – ein Heiratsmarkt, der an den Wochenenden 20.000 Menschen anzieht. Viele lassen ihre Autos vor dem Ort auf einer Wiese stehen, weil die beiden Straßen Lisdoonvarnas rund um die Uhr verstopft sind. Höhepunkt des Festivals ist die Wahl des „Mister Lisdoonvarna“. „Viele der Männer, die Jahr für Jahr herkommen, würden den Pokal für ihr Leben gerne gewinnen“, sagt Jim White, dem vier Hotels im Ort gehören, „damit sie ihn später ihren Enkelkindern zeigen können.“
White, ein drahtiger 50jähriger, stammt aus Donegal im Nordwesten, wo er Abgeordneter für die konservative Partei Fine Gael war. Vor 30 Jahren kam er das erste Mal zum „Matchmaking Festival“ und kehrte fortan jedes Jahr zurück. 1974 kaufte er das Hydro-Hotel und ließ sich in Lisdoonvarna nieder. Inzwischen ist White die treibende Kraft hinter dem Festival – auch wenn er widerspricht: „Das gab es schon lange bevor ich nach Lisdoonvarna kam“, sagt er. „Es ist eins der ältesten Festivals Irlands, das fing schon vor 150 Jahren an.“
Lisdoonvarna ist der einzige Kurort der Grünen Insel, die Heilquelle am Ende des Ortes enthält Schwefel, Magnesium, Eisen und Jod. „Die armen Pachtbauern konnten sich natürlich keinen Urlaub leisten“, erzählt White, „aber die reichen Landbesitzer kamen im September nach Lisdoonvarna, weil dann das Heu eingebracht und das Korn geschnitten war. Sie brachten die ganze Familie mit.“
Daraus entwickelte sich im Lauf der Jahre der Heiratsmarkt: Während die alten Leute zur Heilung in die Bäder gingen, veranstalteten die jüngeren Familienmitglieder Tänze, um sich die Zeit zu vertreiben. Der „Tangler“ sorgte für die Eheanbahnung. „Eigentlich war er nur für die Vermittlung zwischen Verkäufern und Kunden beim Rinderhandel zuständig“, sagt Jim White, „doch dann dehnte der Tangler seinen Geschäftsbereich aus. So zog er im Land herum und riet den reichen Familien, mit ihren Söhnen und Töchtern im September nach Lisdoonvarna zu kommen, weil sie dort standesgemäße Ehepartner finden würden.“
Viel habe sich seitdem nicht verändert, meint Jim White. Noch immer findet der erste Tanz des Tages unten an der Quelle im Spa Well Hotel statt – täglich um zwölf Uhr mittags. Nach dem Lunch geht man ins Wirtshaus, bis am Nachmittag wieder die Tanzveranstaltungen beginnen.
„An einem schönen Tag spannten die Kurgäste früher die Pferde ein und fuhren zum Ballynalacken Castle“, sagt White. „Auch das ist heute noch so – allerdings nehmen sie statt der Kutsche das Auto, die Burg liegt nämlich ziemlich abseits. Abends kommen sie nach Lisdoonvarna zurück und tanzen in einer der 18 Kneipen, Bars und Hotels bis zum frühen Morgen.“
95 Prozent der Gäste sind IrInnen. Das Heiratsfestival ist auf die Generation zwischen 30 und 50 zugeschnitten. „Dazwischen liegt nämlich die magische 40, wenn die Unverheirateten langsam nervös werden“, sagt White. Er sieht sich als „indirekten Heiratsvermittler“ und Organisator: „Ich erzähle den Leuten, wo etwas los ist. Wenn sie von einem Tanz zum nächsten ziehen, treffen sie immer wieder dieselben Menschen. Nach dem zweiten oder dritten Mal entsteht eine gewisse Vertrautheit, und man wagt es eher, jemanden zum Tanzen aufzufordern. Wer dann immer noch kein Glück hat, muß sich an Willie Daly wenden.“
Willie Daly ist der berühmteste „Matchmaker“ der Gegend. Er lebt mit seiner Frau und seinen sieben Kindern in einem neuen Bungalow außerhalb Lisdoonvarnas. Seinen alten Bauernhof auf dem Nachbargrundstück benutzt er als Stall für Pferde und Ponys, die er an Touristen vermietet. Die ganze Gegend lebt vom Tourismus, während des Heiratsfestivals ist jedes Zimmer vermietet – selbst in der Wohnsiedlung am Ortsrand Lisdoonvarnas.
In Willie Dalys geräumiger Küche am Ende des Flurs herrscht das Chaos: Unter dem Tisch liegen drei Pantoffeln, über die Lehne des blauen Stuhls mit Strohsitz sind ein paar Strickjacken geworfen, in der Ecke liegt eine Gitarre. Das „ewige Licht“ neben dem Jesusbild an der Wand ist verlöscht: Die rote Birne fehlt. Willie Daly räumt das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine und singt dabei ein Volkslied. Er sieht trotz seines grauen Bartes und seiner bedächtigen Bewegungen jünger aus als Mitte Fünfzig. Wenn er erzählt, schweift er immer wieder in Anekdoten ab. Und niemand weiß ganz genau, ob sie sich wirklich so zugetragen haben.
„Auf den Tag genau vor drei Wochen war ich auf einer Hochzeit“, beginnt er eine dieser Geschichten, „der Mann war 82. Er hatte mich im Mai ständig angerufen, das waren wohl die Frühlingsgefühle. Meine Kuh kalbte gerade, und ich verlor die Geduld mit ihm. Er sagte, daß er sein ganzes Leben mit seinen Eltern und einer Tante gelebt habe, aber nun sei auch die Tante gestorben, und er müsse sich etwas einfallen lassen. Um es kurz zu machen: Wenig später rief mich diese Frau aus Galway an und sagte, sie sei 34 und ihr Mann sei beim Melken durch einen Stromschlag getötet worden. Sie suchte jemanden ohne Ambitionen – jemanden, der nicht scharf auf Haus, Land oder Geld war. Ich sagte, ich hätte jemanden, aber er sei schon etwas älter. Das war ihr egal, und so bestellte ich ihn in ein Hotel in Ennis und fuhr mit ihr hin. Sie trug schwarze Strumpfhosen, einen roten Minirock und eine rote Bluse. Mit ihren schwarzen Haaren und braunen Augen sah sie wunderschön aus. Je näher wir ans Hotel kamen, desto nervöser wurde sie. John, der alte Knabe, saß mutterseelenallein in einem riesigen Saal. In dem Augenblick sah er sehr gebrechlich aus, viel älter als 82. Ich ließ die beiden dann alleine, sie verstanden sich auf Anhieb. Johns Cousin war Trauzeuge, er ist auch schon 79 und immer noch Junggeselle. Ich soll ihm jetzt helfen, diesen Zustand zu ändern.“
Dalys Vater und Großvater waren bereits „Matchmaker“. Er selbst übernahm das Ehrenamt – die Klienten müssen lediglich die Telefonkosten tragen, Klientinnen zahlen nichts – vor 28 Jahren. Damals gab es kaum Tourismus, im Winter war es sehr einsam in Lisdoonvarna. „Viele meiner Freunde zogen in die Stadt, die alten Bauernhäuser verfielen langsam“, sagt Daly. „Das Land wurde schließlich von reichen Ausländern aufgekauft, die hier nur ein paar Wochen im Jahr verbringen. Das war für mich der Hauptgrund, mit der Heiratsvermittlung anzufangen.“
Daly findet seine Klienten in den Wirtshäusern in Lisdoonvarna und Umgebung. Er hält dort regelmäßig „Sprechstunden“ ab und macht sich dabei ein paar Notizen. Aus dem Küchenschrank zieht er ein riesiges, schweres Buch hervor und schlägt es auf. Es enthält Namen, Berufe, ein paar Hobbys. „Ich schreibe eigentlich sehr wenig auf“, sagt er. „Ich möchte das Element der Überraschung bewahren, die Leute sollen nicht allzuviel voneinander wissen, bevor ich sie zusammenbringe.“
Die physische Anziehungskraft spielt nur zu 60 Prozent eine Rolle, meint er. „Mehr ist nicht gut. Eine Frau heiratet einen Mann nicht nur, weil sie ihn attraktiv findet, sondern sie muß ihn auch mögen.“ Daly fragt die Heiratswilligen kaum danach, wie sie sich den zukünftigen Partner oder die Partnerin vorstellen, sondern er verläßt sich auf seine Intuition. „Wenn ich zuviel frage, scheiden viele mögliche Partner von vornherein aus, was bei einer persönlichen Begegnung ganz anders laufen könnte“, sagt er.
Früher sei die Vermittlung einfacher gewesen. „Heutzutage sind die Frauen sehr unabhängig. Sie haben gute Jobs, verdienen Geld, und Männer sind nicht mehr so wichtig in ihrem Leben.“
Seit vier Jahren annonciert Daly in Dubliner Zeitungen „romantische Reitferien in Westirland“. Der Urlaub beinhaltet Übernachtungen in Pensionen und Farmhäusern sowie eine Nacht auf dem Campingplatz. „Beim ersten Mal nahmen 17 Leute daran teil“, erzählt Daly, „vier davon aus Deutschland, zwei aus Frankreich. Anfangs war der Umgang untereinander sehr reserviert. Das änderte sich in der fünften Nacht. Die Gruppe zeltete gar nicht weit von hier. Draußen tobte ein Gewitter, und die Frauen hatten Angst. In der Nacht sind sich alle sehr viel näher gekommen, als wir es uns am Anfang vorgestellt hatten. Zwei der deutschen Frauen sind inzwischen mit Iren verheiratet.“
Während des Festivals hat Daly ein „Büro“ im Hydro-Hotel, eine kleine Alkove neben dem Eingang. In der vergangenen Woche suchten ihn dort drei protestantische Pfarrer aus England auf. „Sie wollten Frauen, die weder rauchten noch tranken“, sagt er, „am liebsten wären ihnen wohl Heilige gewesen. Aber die sind selbst in Irland selten geworden.“
Der Tanzsaal des Royal Spa Hotel hat den Charme einer Bahnhofshalle. Eine rote, eine grüne und eine gelbe Lampe sorgen für ein schummriges Licht. Auf der Bühne spielt eine Band Country- Musik. Die beiden alten Männer an Gitarre und Schlagzeug und die junge Frau am Synthesizer sehen aus, als wenn sie zu einer Beerdigung aufspielen. Die Gäste drängeln sich ohnehin an der Theke und nicht auf der Tanzfläche. Neunmal im September ist die Sperrstunde in Lisdoonvarna bis halb zwei verlängert. Eine halbe Stunde später leert sich der Saal, die Gäste ziehen weiter zum Hydro-Hotel, wo es mit einer Sondergenehmigung bis fünf Uhr weitergeht. Unterwegs kann man sich auf dem Marktplatz an drei Würstchenbuden auf Rädern mit Fast food versorgen. Ein Schausteller, der daneben seinen „Haut den Lukas“ aufgebaut hat, verdient auch nachts noch recht gut an der Eitelkeit der Männer.
Am Eingang des Hydro-Hotels hat sich eine lange Schlange gebildet. Jim White steht im Foyer und überwacht die Einlaßprozedur. „Es ist die einmalige Atmosphäre, die die Menschen jedes Jahr magnetisch anzieht“, sagt er. „Man könnte den Leuten eine Woche kostenlosen Urlaub irgendwo in der Welt anbieten – die meisten würden Lisdoonvarna wählen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen