6.Oktober 1989: Hoffen auf die SED
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
In Potsdam wollen wir uns eine Aufführung von Volker Brauns „Zeit der Wölfe“ ansehen. Wärend drei meiner Freunde eisern am einmal gefaßten Plan festhalten, bleibe ich mit dem vierten im Auto sitzen. Wir wollen uns Honeckers Rede am „Vorabend des Republikgeburtstages“ im Radio anhören. Das Festprogramm zum 40.Jahrestag der DDR wird in Berlin scheint's unbeirrbar durchgezogen. „Traditionell“ beginnt dieses Programm mit einem Empfang für die voranschreitende revolutionäre Avantgarde des Landes, auch wenn eine große Zahl dieser Vertreter in diesem Jahr im Rollstuhl in den Palast der Republik geschoben werden muß.
Aus den Nachrichten erfahren wir jedoch zunächst, daß die Grenzen zur Bundesrepublik und zu Westberlin auch für Einreisende geschlossen worden sind. Nach der Schließung der Grenzen zur Tschechoslowakei vor zwei Tagen ist die DDR nun vollständig von der Welt abgeriegelt.
In Honeckers Rede setze ich einige Hoffnungen. Für mich ist dies die letzte Chance, die Situation im Lande zu entspannen. Eine offene und selbstkritische Rede, in der ein sichtbarer Schritt der Führung auf das Volk zu gemacht werden würde, ist die Voraussetzung dafür, den gestörten gesellschaftlichen Dialog wieder in Gang zu bringen. Und es ist die letzte Chance für die Greise im Politbüro, einigermaßen anständig aus dieser Krise herauszukommen.
Aber dann ist wieder nur von den „Erfolgen bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ die Rede. Kein Wort zur aktuellen Situation, kein Wort zur Perestroika in der Sowjetunion, nur Selbstbeweihräucherung und Starrsinn. Ich lebe in einem anderen Land als der Genosse Honecker; er lebt offenbar auf dem Mond. Mein Kumpel und ich sitzen in diesem Auto auf einem Potsdamer Parkplatz, hören zu und ersäufen unsere Hoffnungen in einer Flasche Branntwein. Wolfram Kempe
Schriftsteller und Publizist. Lebt in Berlin.
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