: Einige stehen jetzt im Durchzug
■ Als Lemmer und Lummer noch durcheinandergebracht werden konnten: „Die Mauer-Schneise“, ein Buch über den schönen Weg entlang der unverbauten Grenze
Immer an der – nicht mehr vorhandenen – Wand lang hat sich Helgard Behrendt vom Wachturm am Schlesischen Busch bis zum ehemaligen Grenzübergang Bornholmer Straße durchgehangelt. Ein richtiger Geschichtspfad durch die Berliner und deutsche Geschichte ist dieser Gang auf dem ehemaligen Grenzstreifen zwischen Kreuzberg und Treptow sowie Prenzlauer Berg und Wedding. Nach einer kurzen Einleitung über die „Anatomie der Mauer“ und nüchterne Zahlen zum verschwundenen Alt-Bauwerk der Stadt wandelt man mit Hilfe des Buches durch nichtssagende Stadtbrache, über neu geknüpfte Verkehrsverbindungen und durch das Zentrum deutscher Machtpolitik von einst.
Helgard Behrendt, der die westlichen Touren erst nach dem Mauerdurchbruch vom 9.11. 89 machen konnte, hat ein solides Büchlein geschrieben, das sowohl in der äußerlichen Form wie auch im Inhalt ein praktischer Begleiter auf dem Weg zwischen West- und Ost-Berlin ist. Auch Eingeborene können da noch was lernen. Es werden kurz und knapp so unterschiedliche Dinge wie die mittlerweile verschwundene Wagenburg am Engelbecken, das alte Machtzentrum an der Wilhelmstraße oder der Invalidenfriedhof mit den dort begrabenen preußischen Generälen beschrieben. Insgesamt sind es 61 Stationen. Einzig entscheidendes Kriterium ist die Nähe zum ehemaligen Bollwerk. Das ist natürlich willkürlich, entspricht aber der willkürlichen 28jährigen Realität der Grenze. Dabei ist aus Westsicht allerdings anzumerken, daß einiges fehlt: So hätte unbedingt das unmittelbar an der Mauer gelegene Künstlerhaus Bethanien (früher ein Krankenhaus) in die Tour gehört, zumal im hinteren Gebäudeteil der mittlerweile berühmt gewordene französische Mauermaler Thierry Noir wohnt. Zusammen mit seinem Freund Christoph Boché ist ihm ein wesentlicher Teil der Mauerkunst auf der Westseite zu verdanken. Mitte der Achtziger hatten sich die beiden vorgenommen, die Mauer vom Bethanien in Kreuzberg bis zum Potsdamer Platz zu bemalen. Über 300 Meter schafften sie, bis sie von nachfolgenden Künstlern und solchen, die es sein wollten, ebenfalls geschafft wurden. Die Bochés und Noirs wurden übermalt.
Über die Veränderungen durch den Fall der Mauer in Kreuzberg und anderswo hätte man ebenfalls ein wenig mehr schreiben können. Manche Menschen in West-Berlin hatten sich ja im Schatten der Mauer behaglich eingerichtet und stehen jetzt förmlich im Durchzug. Ein Ost-West-Schreiber-Duo wäre wohl die ideale Autorenkombination gewesen. Dann wäre es auch nicht zu dem kleinen, aber folgenschweren Fehler gekommen, daß der Bundesminister, der 1963 das Museum am Checkpoint Charlie eröffnete, in dem Buch Ernst Lummer heißt. Ernst Lemmer war zu Lummer mutiert. Heinrich Lummer, stadtbekannter CDU- Rechtsaußen, hat in West-Berlin ganz andere Dinge angestellt.
Zu kurz gekommen sind auch die Ideen, wie der Mauerstreifen als Geschichtsmeile erhalten werden könnte, zum Beispiel mit einem Kupferstreifen, der sich durch die Stadt zieht, egal, was heute anstelle der Mauer dort steht. Die Touristen irren auf der Suche nach den Resten der Mauer durch die Stadt. Vielleicht finden sie mit Hilfe der „Mauer-Schneise“ von Behrendt die Überreste in der Niederkirchnerstraße, wo jetzt noch ein 300 Meter langes Stück vor den Mauerspechten gerettet worden ist. Nun sollen, so berichtet Behrend, davon als „Kompromiß“ noch 70 Meter übrigbleiben.
Hätte man doch auf die Berliner Geschichtswerkstatt gehört, die schon am 30.10. 89, also zehn Tage vor dem Mauerfall, die an diesem Tag viel gescholtene Forderung aufstellte: Laßt die Mauer stehen! Aber mit Löchern und Durchbrüchen für Menschen, Fahrräder, Züge, Autos, und zwar als Denkmal für eine verfehlte Politik und als Aktionsfläche für die KünstlerInnen der Stadt. Jürgen Karwelat
Helgard Behrendt „Die Mauer- Schneise“, Elefanten Press, 272 Seiten, 19,80 DM.
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