: Gelingende Verführung
■ "Gestern begann die Zukunft": Ein Symposium über künftige Medienvielfalt
Ende der 70er Jahre kam der Videorecorder auf den Markt, der sich hierzulande schneller verkaufte als sonstwo in der Welt. Statt diesen Apparat als ein neues Medium zu problematisieren, diskutierten desorientierte Pädagogen und Jugendschützer über eine Handvoll „Horror-Videos – Blutrausch im Kinderzimmer“, wie Der Spiegel am 12. März 1984 titelte. Denselben Telemüll, den man mit Gebrüll aus den Videotheken exorzierte, strahlte in aller Ruhe das zeitgleich gestartete Privatfernsehen aus: „Wir haben Spielfilme gesendet, die vor uns zu Recht keiner gezeigt hatte“, gab RTL-Chef Helmut Thoma später zu.
Warum die Horrorvideo-Debatte zunächst nicht aufs Privatfernsehen ausgedehnt wurde, erhellt der bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber: „Das Ziel, die ,Monopolanstalten‘ ARD und ZDF durch Programmvielfalt zu entautorisieren, wurde erreicht“, (Gong, Nr. 41/1993).
Kaum ein Jahrzehnt ist es her, seit durch den Start des werbefinanzierten Privatfernsehens und seiner sog. „Programmvielfalt“ der elektronische Medienmarkt gründlich umgekrempelt wurde. Die digitale Datenkompression stellt nun die technische Möglichkeit bereit, bald bis zu 250 verschiedene Fernsehkanäle auf deutschen Bildschirmen zu empfangen. Über Entwicklung und Bedeutung dieser „Medienvielfalt“ fand am letzten Wochenende in der Frankfurter Oper ein wissenschaftliches Mediensymposium statt, das von der „Stiftung Lesen“ (Bertelsmann Buch AG) und dem ZDF organisiert wurde.
Wer jedoch in der Annahme im edelholzgetäfelten Mozartsaal Platz nahm, daß hier anhand der Fakten jüngster Medienvergangenheit sowie dem Elend unserer gegenwärtigen 25 Kanäle über Ökonomie und Trivialisierung des kommenden Medienmarktes diskutiert werden würde, wurde gründlich enttäuscht. Auf dem Podium saßen wieder nur vornehmlich jene Dinosaurier, die – gemäß der einzigen treffenden Bemerkung des Veranstaltungsmoderators Karl-Otto Saur – „häufig über Programme reden, sie aber nicht gesehen haben“.
Statt die absehbare multimediale Einfalt kritisch zu beleuchten, setzte man durch die Auswahl der Referenten einen deutlich kulturindustriefreundlichen Akzent. So hielt das Eingangs- und Schlußreferat ausgerechnet jener Gerhard Schulze, der in seiner 800 Seiten starken Marketing-Studie „Die Erlebnisgesellschaft“ christdemokratische Ideologie als Soziologie verbrämt. Will man Schulze glauben, gibt es keine Armut und Arbeitslosigkeit mehr. Im Zentrum seines perfiden Konsumoptimismus steht die Frage „Was will ich eigentlich?“ im gesellschaftlichen Rahmen reiner Überflußverwaltung. „Was man will, weiß man dann genau, wenn man hungert, dürstet und friert. Aber was weiß man ohne die philosophische Entlastung durch ungünstige Lebensumstände?“ Die „ungünstigen Lebensumstände“ von knapp vier Millionen Arbeitslosen sowie einer erheblichen Anzahl von Sozialhilfeempfängern werden hier als Philosophie verunglimpft. Schulze, der die empirischen Daten seiner Provinztheorie im Bamberger Studentenmilieu erhob, hat eine schamlose Soziologie der 2/3-Gesellschaft im Sinn, die er nun munter auf den Umgang mit 250 TV- Kanälen anlegt.
Statt von Konsum redet Schulze von „Erlebnisrationalität“. Das ist „ein technisch instrumenteller Bezug zu sich selbst, ist die Übertragung der Logik der Naturbeherrschung auf Körper und Bewußtsein“. Konsumfreie Zonen gibt es bei Schulze nicht mehr, denn Subjektivität definiert er dadurch, daß man als Mensch irgend etwas Bezahlbares verbraucht. Dieser Irrwitz wird nicht wirklich kritisiert, sondern als Erkenntnis gefeiert, denn: „Die Option, die Kommerzialisierung wieder abzuschaffen, steht nicht zur Verfügung.“
Oberschlau kommt Schulze sich vor, wenn er nun die totale Erfassung des Subjektes durch Konsumverhalten negiert, um die Lücke im „alltagsphilosophischen“ Konzept der Erlebnisrationalität als Quelle der Freiheit zu definieren. Trotz „Übertragung der Logik der Naturbeherrschung auf Körper und Bewußtsein“ bleibe der Mensch in seinem Verhalten grundsätzlich undefinierbar und unvorhersehbar.
Dieses Argument macht Schulze nur aus einem Grund stark: Der nunmehr unberechenbare Konsument kann so auch nicht mehr mit serieller Massenware im Sinne der „Kulturindustrie“ abgefertigt werden. Denn es sei für (Medien-)Unternehmer „immer wieder von neuem unklar, mit welchen kulturellen Mitteln man den Erfolg erreichen kann“. Statt von einer „fürsorglichen Entmündigung des Publikums“ spricht Schulze vom „Machtgewinn des Subjekts“. Denn Erlebnisrationalität bestehe ja gerade darin, die Intelligenz zur Steuerung gelingender Verführung einzusetzen: Selten hat es ein Opfer so faustdick hinter den Ohren gehabt.
Das Kennzeichen von Schulzes neoreaktionärer Konsum- und Medientheorie ist die funktionale und daher trügerische Aufwertung des Subjekts, die jedoch nur den Zweck hat, einem neuen, technokratischen Manchasterkapitalismus das Wort zu reden: „Wenn man technischen Fortschritt als zweischneidig beurteilt, räumt man ein, daß er auch sein Gutes haben kann.“ 250 Kanäle samt interaktivem Schnickschnack seien, so Schulze, eben nicht verkehrt, „weil die Konsumenten (damit) zu einer aktiveren, kritischeren Haltung förmlich gedrängt werden“.
Wir brauchen uns also keine Sorgen darüber zu machen, daß Kirch und die Telekom im Glasfaserverbund „Media Service GmbH“ über 50 Prozent Anteile haben, denn sie bringen uns ja die Vielfalt – die wir obendrein gar nicht wollen! Denn, so Schulze weiter, die Konsumenten „verfluchen“ ihre „Machtsteigerung“ und die „Vermehrung ihres Einflusses“. „Die Explosion der Wahlmöglichkeiten katapultiert die Konsumenten aus dem warmen Biotop der Fernsehidiotie der 80er Jahre hinaus“. Fröstelnd spüren auch wir nun plötzlich im anheimelnden Mozartsaal den kalten Wind der Selbstverantwortung. Manfred Riepe
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