: Das Trauma des lustigen Akustikers
■ Heinrich Lüdeke macht in Bremen die Akustik und den Likör „Heini Holtenbeen“, besitzt ein Norm-Trampelgerät und des Teufels Gesangbuch / Ein Porträt von Burkhard Straßmann
Es ist Nacht in Bremen. Auf dem Dach der Stadthalle steht eine nicht mehr ganz junge Frau und spritzt mit einem C-Rohr der Feuerwehr Wasser in die Luft. Da kommt eine Windbö, und sie wird klitschnaß. Unterm Dach, in einem engen Belüftungsschacht, klemmt ein kleiner alter Mann, dreckig wie ein Schwein, und schimpft, weil der Regen aufhört. Das ist Wilhelm Lüdeke, 74 Jahre alt, Akustiker. Er mißt gerade, wieviel Krach ein kräftiger Schauer auf dem Stadthallendach produziert. In Dezibel. Denn die Stadthalle ist zu laut. Jedenfalls für klassische Musik. Jetzt wird sie umgebaut. Und nachts, wenn die Bauarbeiter im Bett sind, ist die Zeit des Akustikers. Leider ist es auch die Zeit seiner Frau, die Eva heißt, wie der „Eva-Faktor“, aber davon später. Seine Frau kennt das schon. Sie muß immer mit. Lüdeke hat erst mit 48 geheiratet, alle anderen sind weggelaufen.
Wilhelm Lüdeke ist nicht irgendein, sondern der Bremer Akustiker. Akustische Laien ahnen ja nicht, wie sich Bremen anhören würde ohne Lüdeke. In seinem Ingenieurbüro für Studiotechnik und Akustik auf dem Buntentorsteinweg stehen alte Schachteln mit kleinen Papierröllchen, darauf Namen wie Übersee-Hotel, Sparkasse Vegesack, Gericht, BIBA Hochbau, Mikrosystemtechnik, Kaserne Grohn, Kraftwerk Strohm und –zig andere. Da ist das Arbeitsamt, das hab' ich gemacht, ich hab' die gesamte Uni gemacht – drei Jahre. Kurven über Kurven, die dem Kundigen etwas über die Akustik in Sälen und Hallen öffentlicher und kommerzieller Bremer Häuser aussagen.
Nun ist Lüdekes Ingenieurbüro alles andere als das, was man sich unter einem Büro vorstellt. Es ist, vorsichtig ausgedrückt, eine unglaublich chaotische, völlig verrückte, nach unirdischen Ordnungskriterien zerrüttete Bude, die überhaupt und eigentlich komischerweise eine Likörhandlung ist. Seit Unzeiten kennt man in Bremen nämlich die Spirituosenfirma Lüdeke, insbesondere und heute nur noch ihren magenbitteren „Heini Holtenbeen“, 40%, nach drei Gläsern schmeckt er wie Himbeersaft, nach 15 Gläsern fällt man um. Also gibt es ein „Kontor“ mit uraltem grünem Tresor, einen gebeutelten Verkaufstresen, Flaschen allüberall, dazwischen aber und aufs Innigste vermengt Akten, Modelle (das war Syke, hier der Orchestergraben), Versuchsanordnungen und Architekturpläne. Das ist Lüdekes Bude. In einem halben Jahr kommt das alles auf den Container. Alles!
Wenn Lüdeke loslegt, fallen ihm die weißen Haarsträhnen ins Gesicht. Dann tanzt seine Stimme durch die alte Bude, lacht, doziert, reiht Döneken an Döneken, tobt durch einen Grundkurs der Akustik, überspringt Jahrzehnte wie nichts und landet immer wieder bei Radio Bremen. Radio Bremen hab ich gemacht. Erst war er Elektromaschinenbauer bei Lloyd Dynamo, dann, nach dem Krieg, studierte er Elektroingenieur auf der heutigen HfT, dann starb der Alte und das Gesetz der letzten Söhne griff: Wilhelm mußte 1951 nach der Destillateurprüfung die Spirituosenhandlung übernehmen. Da war er aber schon Oberbastler bei Radio Bremen, das es fast noch gar nicht gab, und baute den Sender mit auf – aus Wehrmachtsschrott und Amiröhren. Hier wurde er über den Bau der Studios zum Akustiker. Wenn aber ein Architekt in Bremen einen Akustiker brauchte, fragte er beim Radio nach und mußte auf Lüdeke stoßen. So begann dessen Karriere. Heute macht Lüdeke noch die Akustik für ein jüngst ausgebranntes Studio beim Fernsehn.
Likör war immer dabei. Der Alte hatte leider die Rezepte nur im Kopf gespeichert und allesamt mit ins Grab genommen. Der Junge probierte und mixte und würzte, und halb Radio Bremen war zum Abschmecken dabei. Selbst der Direktor fand einmal nicht mehr das Schloß der Autotür und sank auf der Motorhaube zusammen. Der Markt aber sprach immer mehr gegen die kleine Destille und für die Akustik. „Heini Holtenbeen“ als Magentropfen gibt es heute nur noch aus Pietät und für die Herren vom Hochbauamt, die der Hausmarke gern zusprechen, was dem Auftragsbuch des Akustikers womöglich zugute kommt.
Es gibt zwei speckige scharze Büchlein in Lüdekes Leben, die sind wichtig. Das eine, des Teufels Gesangbuch, enthält seine geheimen Likör-Rezepte. Das andere hat keinen Namen und enthält seine Formeln. Die Formeln gibt es in keinen Büchern, von 1951 an hat er hier eingetragen, was von Auftrag zu Auftrag hinzugekommen ist. Die „Berechnung der Korkgröße unter Fundament“ etwa oder die Formel für den „Schallnebenweg“. Mein Buch nehm' ich mit ins Bett. Wie er alle teuren Geräte mit in seine Wohnung ein paar Blocks weiter nimmt. Wegen der ganzen Türken hier.
Eines dieser wertvollen Geräte trägt den schönen Namen „Norm-Trampelgerät“. 25 Jahre war Lüdeke nebenher vereidigter Gerichtsgutachter. Wenn eine Baufirma verklagt wurde, weil die Räume zu hellhörig erschienen, rückte Lüdeke mit seinem vierhämmrigen Norm-Trampelgerät an und ließ trampeln, während er in der Wohnung darunter oder nebenan maß. Einmal, im Gericht, wollte ein Beklagter, der sich über Lüdekes Gutachten geärgert hatte, den Akustiker erschießen. Da lachte Lüdeke lauthals und schrie: „Nicht schon wieder!“ Der Angreifer ließ völlig verstört die Waffe sinken und Lüdeke laufen.
Nicht schon wieder. Das war der Rußlandfeldzug. Leningrad, minus 52 Grad. Füße erfroren. Drei mal anständig erwischt. Dann in russischer Gefangenschaft eine Scheinhinrichtung, Gräber ausheben, Schüsse fallen. Drei ukrainische Soldaten, Juden, hatten sich einen Spaß gemacht. Jetzt weiß er, was man kurz vor dem Tod denkt. Zuerst „Weg von hier“. Dann „Was kommt danach?“ Schmeckt der nicht herrlich, der Heini Holtenbeen? Eine letzte 60-Liter-Flasche ist noch angesetzt, dann ist Schluß. Eva, zehn Jahre jünger als ihr Mann, will nicht mehr.
Der „Eva-Faktor“ war gewiß ein Beitrag zu Eva Lüdekes Zermürbung: Um die schalldämmende Wirkung einer Wand zu untersuchen, benutzt Wilhelm Lüdeke gewöhnlich eine riesigen Lautsprecher und nimmt den Schall auf der Wand gegenüber mit Körpermikrophonen ab. Kriegt er aber die dicke Lärmkiste nicht zum Meßplatz geschleppt, muß Eva ran. Die darf dann hämmern. Auch mal drei Stunden lang. So mißt er den „Eva-Faktor“. Natürlich vergleicht er am Ende die erste mit der letzten Messung – ob sie lahm geworden ist.
Am liebsten aber mißt Lüdeke in seiner Bude. Am Modell. In einer Ecke steht das VCB. Als das Veranstaltungs-Centrum Bremen noch aus ein paar Architektenstrichen auf Papier bestand, wollte natürlich auch die Akustik geplant sein. Da baute der Akustiker ein Holzmodell und packte seine Spieglein aus. Auf die „Bühne“ stellte er eine Glühbirne und rückte die Spieglein an der Innenwand so lange, bis der ganze Raum ausgeleuchtet war. So mußten die Innenwände stehen, wenn man davon ausgeht, daß sich Schall wie Licht bewegt. Die Architekten bekamen eine Krise. Architekten und Akustiker sind natürliche Feinde. Zwölf mal zeichnete Lüdeke, zwölf mal zeichneten die Architekten zurück. Er baute ein akustisches Modell mit winzigem Lautsprecher und winzigen Mikros, machte Versuche in der „Wellenwanne“, wo Wasser ans Modell schwappt. Am Ende ist das immer ein Kompromiß.
Das Spiel ist riskant. Bonn, das neue Parlamentsgebäude, ein wunderschöner Fall, der schönste! Es heißt, der Schaden belaufe sich auf 2,3 Millionen. Und das ist noch mehr. Unter Akustikern gern besprochen wird „Die Katastrophe“, der Fall des Hannoverschen Landtages. Da war die Akustik versaut, weil der Akustiker dem Architekten nachgegeben hatten. Sagt Lüdeke. Zu wenig „Schluckstoff“ benutzt. Beim VCB habe ich nur mit Erpressung gearbeitet. Mir ist noch nie was so in die Hose gegangen, daß es in der Zeitung stand.
Die Akustik ist eine Art Zauberei. Schon weil sie sich störrisch der letzten wissenschaftlichen Erfassung widersetzt. Suchen Sie mal Software für Akustiker! Das menschliche Ohr ist so viel mehr als ein Mikrophon. Lüdeke, der selbst über zwei prachtvolle Ohren verfügt, könnte die Kleine Schauburg so hallen lassen wie die Große. Wenn ein Theatersaal zu gedämpft klingt, „bedämpft“ er das Foyer umso mehr – schon klingt der Saal. Und was der Schall alles anrichtet! Einmal mußte Lüdeke zum Musikkeller Stubu, weil im Friesenhof drüber die Gläser klirrten. Das passierte nie beim Haus-DJ, öfter aber bei fremden Kapellen. Lüdeke kam und maß: 90 Dezibel bei 30 Hertz, DREISSIG HERTZ!“ Das sind die wummernden Bässe, die gegen die Bauchdecke schlagen. Wie man inzwischen weiß, hat das nichts mehr mit Hören, aber viel mit Hormonen zu tun, die aufputschen und stimulieren.
Der heikelste Job war zuletzt die „Glocke“. Das Konzerthaus, bekannt für sein knarzendes Gestühl und die großartige Akustik, soll saniert werden. Da bekommt es der Akustiker, der sie begutachtet hat, mit der Angst zu tun. Weit über 1000 Messungen hat er gemacht, die ganze Holzkiste schwingt, es ist wirklich eine Glocke. Er glaubt an einen akustischen Glücks- und Zufall, so weit waren wir 1928 noch gar nicht, uns sowas auszudenken. Die Akustik hängt mit den Holzplatten an den Wänden zusammen, die allesamt mitschwingen. Macht man die ab und hängt sie anders wieder auf – die ganze „Glocke“ könnte akustisch hin sein. Alle haben da eine Scheißangst.
Hin und wieder, selten sogar für ein Geschäft mit nur noch einer Likörmarke, kommen Kunden. Junge Männer in Trainingshose. Lüdeke muß sie vertrösten, Heini Holtenbeen braucht seine Zeit, trotz künstlicher Schnellalterung mit „Oxiquick“. Heinrich Lüdeke und der Reporter sind inzwischen jenseits der „Himbeersaft“-Grenze. Ja der Rußland-Feldzug. Unvermittelt wird das Gesicht des alten Mannes hart. Und es sprudelt plötzlich aus ihm, daß wir noch immer keinen Friedensvertrag haben und daß man ja heute nur noch von der Nazi-Armee spricht statt von der Wehrmacht und daß in der Reichskristallnacht nur Scheiben kaputtgegangen sind, er war dabei, hat selbst als Junge „Rache für Rath“ auf Wände geschmiert, und Goebbels hatte einen Tag später im Radio getobt, wie sowas im Ausland aussieht, aber wer weiß das heute noch. Ja ich bin ein „Nazi“, ich war doch in der „Nazi-Armee“. Schimpft es aus ihm, daß man glatt die Gänsefüßchen überhören könnte. Brüsk macht der Alte auf dem Absatz kehrt und läßt den Reporter stehen. Das Trauma des lustigen Akustikers.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen