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Hurra, wir leben immer noch!

Norberto Bobbio, italienischer Philosoph, fragt in seinem neuen Essay nach der Tauglichkeit der Links-Rechts-Unterscheidung. Ergebnis: Es gibt sie und sie ist sogar vernünftig  ■ Von Christian Semler

Allzu große Verve bei der Beerdigung des Gegensatzpaars Rechts-Links weckt Mißtrauen. Nach 1945 wollte kein Mensch der Rechten zugehören. Alle, auch die, die es in keiner Weise waren, nannten sich Linke. Jetzt, das heißt nach 1989, sieht es ganz danach aus, als ob vermittels einer semantischen Bereinigungsaktion die Schwäche der Linken kaschiert werden soll. „Es ist ein schlechtes Zeichen“, schrieb Norberto Bobbio 1993 in „Sinistra punto zero“, „daß es nun immer häufiger die Linken sind, die die Unterscheidung zwischen Links und Rechts leugnen.“ Offensichtlich befinden sich die Linken auf jener Seite des politischen Universums, die im Moment verfinstert ist.

Im Frühjahr 1994 kehrte Bobbio, Sozialist, Freigeist und Mentor mehrerer Generationen politischer Wissenschaftler in Italien, zu „seinem“ Thema zurück. Er braucht nur knapp 100 Seiten, um uns mit „Rechts und Links“ auf den Problem-Stand zu bringen. Was er schreibt, ist lakonisch, ohne vorhergehenden Theorie-Donner aus dem linken Handgelenk formuliert, sogar unterhaltsam. Ein Alterswerk ohne Ausschweifung und Grille. Daß die Italiener aus dem Essay einen Bestseller machten, zeigt nicht nur Erklärungsbedarf, sondern auch unausrottbare schöngeistige Neigungen.

Norberto Bobbio lichtet für uns den Dschungel der in Raum und Zeit angesiedelten politischen Metaphern, um die methodische Angemessenheit der horizontalen Raum-Metapher Links-Rechts für die Beschreibung und Wertung der großen politischen Auseinandersetzungen seit der Französischen Revolution nachzuweisen. Er mustert sodann die Argumente der Leugner wie die der Befürworter der Links-Rechts-Dichotomie und macht uns schließlich mit seiner Lösung des Problems bekannt. Er glaubt, daß es das Streben nach Gleichheit ist, das Linke und Rechte immer schon unterschieden hat und heute noch trennt. „Man kann diejenigen als Egalitarier bezeichnen, die, ohne zu verkennen, daß die Menschen ebenso gleich wie ungleich sind, eher dem größere Bedeutung zumessen, was sie gleich statt ungleich macht, um sie zu beurteilen und ihnen Rechte und Pflichten zu übertragen. Nichtegalitarier sind hingegen diejenigen, die, von der gleichen Feststellung ausgehend, um desselben Zieles willen dem größere Bedeutung zumessen, was die Menschen ungleich statt gleich macht.“

Soweit sich Bobbio mit den „Überwindern“ der Links-Rechts- Dyade auseinandersetzt, sind seine Argumente allesamt sehr bedenkenswert. Im Gedankenzentrum der grünen Bewegungen beispielsweise, die einst unter der Parole „Weder links noch rechts, sondern vorn“ antraten, macht sich der alte Spaltpilz breit. Ist es „die Natur“, die dem Menschen, einem Subjekt neben anderen Natursubjekten, von außen Einschränkungen auferlegt, oder sind es die Menschen, die in Verantwortung für ihre Mitmenschen und die kommenden Generationen einen vernunftbestimmten Gebrauch von der Erde machen? Unterschiedliche Sehweisen, die nach Bobbio in die Links-Rechts-Unterscheidung einmünden werden.

Auch hat es sich herausgestellt, daß die Einebnung der Links- Rechts-Dyade im Zeichen des „antitotalitären“ Kampfs gegen die realsozialistischen Regime eine ziemlich kurzlebige Episode war. Bezeichnenderweise waren es auch hier die Linken, die, mit äußerst negativen Folgewirkungen, den Gegensatz leugneten. Sie wollten sich nicht von der Bevölkerungsmehrheit isolieren, der alles zuwider schien, was nach Sozialismus roch. Kaum aber waren die Realsozialisten abgetreten, lebte die Links-Rechts-Unterscheidung wieder auf. Die Linken aber hatten die Chance versäumt, den Übergang zu Markt und Privateigentum zu beeinflussen.

Keine Schwierigkeiten hat Bobbio auch mit dem vertrackten Problem, wie die auf republikanischer Gleichheit der Bürger bestehenden Linken mit der Andersartigkeit von Individuen und Gruppen (zum Beispiel von Minderheiten) zurechtkommen sollen. Bobbio erklärt hier kurz angebunden, gleiche Tatbestände sollten gleich, ungleiche ungleich behandelt werden. Leicht gesagt, weil von einem ziemlich hohen Abstraktionsniveau aus gesprochen. Alain Touraine, auch ein munterer, leider von Bobbio ignorierter Greis, sieht hier die eigentliche Krux der Linken und fordert den Paradigmenwechsel: „Links ist es heute, die Individuen und die Minderheiten gegen jenen Staat zu verteidigen, der mit den Apparaten der Wirtschaftsleitungen verbunden und dazu da ist, die Forderungen der Konsumenten-Mehrheit zu befriedigen.“ Links ist nach Touraine, wer gegen die Ausschließungen aus der Mehrheitsgesellschaft kämpft. Das Argument unterminiert nicht Bobbios Gleichheitsprinzip. Aber es zeigt, wie schwierig es in einer Zeit zu verwirklichen ist, wo nicht mehr die Aufteilung der Güter oder das Eigentum an Produktionsmitteln zur Debatte stehen, sondern „die Ausrichtung und Ziele der industriellen Gesellschaft selbst“ (Touraine, taz vom 28.7.93).

Man hat gegen Bobbio eingewandt, das Gleichheitspostulat sei durch die realsozialistische Praxis diskreditiert. Sofern man nicht den bequemen Ausweg wählt, die sozialistischen Staaten als nichtsozialistisch abzutun, fällt das Argument für die Bilanz der Linken schwer ins Gewicht. Aber Bobbios Vorstellung von Gleichheit ist überhaupt nicht naiv. Sie lebt zwar von der Sehnsucht nach Gerechtigkeit, ist aber resistent gegenüber jedem Utopismus.

Wenn es einen stichhaltigen Einwand gegen Bobbio gibt, so wäre der dort zu lokalisieren, wo vom Verhältnis von Gleichheit und Freiheit die Rede ist. Nach Bobbio dient das Kriterium der Freiheit dazu, „das politische Ordnungssystem nicht so sehr im Hinblick auf seine Ziele als vielmehr im Hinblick auf seine Mittel und seine Methode zu unterscheiden“. Indem er Freiheit instrumentell definiert, zerschneidet Bobbio den Zusammenhang zwischen den beiden Zielen, die gemeinsam die Schubkraft der Linken ausmachten: Solidarität und das Streben nach individueller Autonomie. Natürlich trifft zu, daß es sowohl auf der Linken wie auf der Rechten stets Strömungen gab, die den Vorrang individueller Freiheit verteidigten, so daß es scheint, als ob „die Freiheit“ als Unterscheidungskriterium zwischen Links und Rechts nichts tauge.

Aber nur der Linken gehört ein Freiheitsbegriff, der, als positiver, auf der Idee der Selbstverwirklichung aufbaut. Nicht umsonst zielte auf ihn die Polemik der Konservativen, wie sie klassisch in Isaiah Berlins „Two concepts of liberty“ unternommen wurde. Das Ziel freier Entfaltung der Persönlichkeit verbindet neben dem der Gleichheit die marxistisch geprägte Arbeiterbewegung mit jenen Koalitionen, die heute, unter gänzlich gewandelten Bedingungen, für emanzipatorische Ziele streiten. Wie sollte der Kampf um die Neubestimmung und -verteilung der Arbeit, um Arbeitszeitverkürzung und Zeitsouveränität anders geführt werden können als unter Berufung auf diese beiden Ziele? Keine Hemmungen also, nennen wir uns einfach „links und (deshalb) frei“!

Norberto Bobbio: „Rechts und Links, Gründe und Bedeutungen einer politischen Differenz“. Wagenbach Verlag, Berlin, 104 S., 14,80 DM

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