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Von Menschen und Dingen

Zwei Erben von Matisse: Max Lingner in der Ladengalerie und Tom Wesselmann im Alten Museum, Maler aus verschiedenen Welten, deren Werke doch Analogien aufweisen  ■ Von Katrin Bettina Müller

Die Entwicklungen der beiden Maler weisen eigenartige Parallelen auf. Den „Reigen“ von Henri Matisse nutzte der ältere in einer Pinselzeichnung von 1957 als Vorlage für eine schwungvolle Figurenkomposition, während der jüngere das berühmte Gemälde als Bild im Bild zitierte. Beide hielten an der gegenständlichen Darstellung fest und suchten mit einer knapp definierten Kontur und Reduktion der farbigen Flächen nach einer Vereinfachung der Motive.

Beide galten als Liebhaber der Frauen, die der eine im Porträt, der andere im Akt erfaßte. Der ältere fand in der singenden Gemeinschaft ein oft variiertes Motiv, während der andere selbst gern zur Gitarre greift. Beide schulten ihren Blick für die Arbeit am großen Format an propagandistischen Aufgaben im öffentlichen Raum. Beider Bildwelten waren eng mit der industriellen Produktion verknüpft.

Dennoch gehören die Bilder von Max Lingner und Tom Wesselmann unverwechselbar verschiedenen Welten an. Lingner, dessen Zeichnungen und Entwürfe die Ladengalerie derzeit ausstellt, warb mit seinen Gruppen tanzender und singender Mädchen für den Sozialismus, während in der Wesselmann-Retrospektive im Alten Museum Glamour-Fetische zu sehen sind, die heute auf den Ausstellungssponsor Mercedes- Benz zurückstrahlen.

Abscheu vor amerikanischer Kunst

Auf den ersten Blick lassen die Daten der beiden Maler einen Vergleich absurd erscheinen: Max Lingner, 1888 in Leipzig geboren, starb 1959 in Berlin. Aus diesem Jahr stammen die ersten Collagen des Country-Sängers Wesselmann, „After Matisse“, in denen er die großflächige Komposition und den Akt als Mittel der Distanzierung von seinen amerikanischen Übervätern des abstrakten Expressionismus für sich entdeckte.

Daß schon diese „Abstrakten“ für Lingner, der die Pop-art nicht mehr kennenlernte, im Verdacht einer kapitalistischen Finte standen, belegt sein Kommentar des Pariser Ausstellungsbetriebs von 1949: „Und dann kam die amerikanische Kunst wie Kaugummi und das Coca-Cola, d.h. in Massen. Man mietete mit großen Dollarscheinen die snobistischsten Galerien, die trotz Stromeinschränkung feenhaft beleuchtet waren, und zeigte das allerletzte Wort der abstrakten Kunst in vielfacher Ausfertigung. Eine richtige Invasion.“ Der „sozial angehauchte Künstler“ habe dagegen „nur in abgelegenen Stadtvierteln“ ausstellen können.

Topografisch abgelegen ist die Ladengalerie am Ku'damm zwar nicht, aber daß die Galeristin an gegenständlicher Malerei festhält, hat sie doch in eine schillernde Randlage gedrängt. 1970 zeigte sie ihre erste Ausstellung von Lingner, dann wurde ihr der bürokratische Aufwand der Verhandlungen mit dem staatlichen Kunsthandel der DDR zu groß. Nach 1989 nahm sie Kontakt zu Lingners Witwe auf. 1991 präsentierte sie „Max Lingner in Paris“: Zwanzig Jahre lang, von 1929 bis 1949, hatte Lingner dort als ein „zur täglichen Zeichnung Verurteilter“ für kommunistische Zeitungen das Arbeiterleben illustriert und große Festdekorationen entworfen.

Die jetzige Ausstellung läßt neben Frauenporträts und im „Ostwind“ fliegenden Liebespaaren die Entwürfe Lingners sehen, die das große Wandbild am Haus der Ministerien vorbereiteten. In ersten Skizzen zum Thema „Wiederaufbau“ faßte er zum Beispiel die schwarzen Röcke und blauen Blusen der Mädchen in einer Figur zusammen und ließ in farbigen Flächen ein Kontinuum des Handlungsraumes entstehen.

Doch die staatlichen Auftraggeber verlangten genaue Verortung. Der Ingenieur war ihnen zu groß geraten, Szenen von familiärem und freundschaftlichem Glück am Anfang und Ende des Frieses zu individualisiert. In endlosen Kompromissen zersplitterte die Dynamik der Komposition in ein additives Nebeneinander, eine nach Quadratzentimetern errechnete Austarierung der Darstellung gesellschaftlicher Kräfte, bis Lingner selbst das 1953 enthüllte Kachelbild nicht mehr sehen mochte.

Den aus Frankreich Zurückgekehrten trafen die Vorwürfe, seine Figuren seien zu wenig deutsch, seine Kompositionen zu dekorativ. Was er sich als Erbe der französischen Moderne angeeignet hatte, drohte im sozialistischen Realismus seine Lebendigkeit einzubüßen.

Der Begriff der Arbeit: ein Bindeglied

Nicht nur ein Ozean trennt die Genreszenen des sozialistischen Alltags von den Ikonen der amerikanischen Kultur, die ein Jahrzehnt später die Leinwände Wesselmanns und anderer Popkünstler besetzten. Doch trotz der verschiedenen Kontexte läßt sich über den Begriff der Arbeit eine Brücke zwischen sozialistischem Realismus und Pop-art schlagen. Galt dem Osten der Arbeiter als Motiv, so näherte der Westen die Kunst selbst der industriellen Produktästhetik der glatten Oberflächen an.

In Lingners Gruppenbildern geht die Bewegung von den Menschen aus: Sie gestalten die Welt. In der Pop-art dagegen hat die Dingwelt die Herrschaft übernommen. Wesselmann paßt in seinen Akten der „Great American Nude“ selbst den Menschen, zumindest den weiblichen, der Warenwelt an. Lingners Weltbild war dynamisch, vom Vertrauen in die menschliche Arbeit an der Geschichte bis in jede kleine Linie hinein bewegt.

Bei Wesselmann erstarrt hingegen alles im Produkt, in winzigen Spielzeugassemblagen ebenso wie in großen Billboards. Deshalb erscheinen uns selbst die geschwungenen Linien seiner aus Stahlblechen geschnittenen Metal Drawings allein wie eine dekorative Bastelarbeit. Da nützt es auch nichts, daß er in „Mixed Bouquet and Léger“ (1992) dem Maler der Maschinisten und des mechanisierten Fortschritts mit einem konturierten Mädchenkopf noch einmal seine Reverenz erweist.

„Max Lingner“, bis 30. 10. in der Ladengalerie, Kurfürstendamm 64, Charlottenburg; „Tom Wesselmann“, bis 23. 10. im Alten Museum, Unter den Linden, Mitte

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