: Selbst frei bleiben
■ Stück „Im Land der letzten Dinge“
Aus dem Land der letzten Dinge gibt es kein Entkommen. Eingesperrt in eine verfallende Stadt, in deren Straßen die Leichen von Verhungerten und Selbstmördern herumliegen, kämpfen die Menschen erbittert um das tägliche Überleben. Ein Stück Brot, ein Paar Schuhe, ein Platz zum Schlafen sind nur durch List oder Gewalt zu erlangen. Noch schwerer ist ein anderer Kampf: der gegen die eigene Verrohung.
In dem Leidensweg der Anna Blume haben die Schauspieler des „Sarajevo Festival Ensemble“ und ihr Regisseur Haris Pasovic ihr eigenes Leben wiedererkannt. 1992 sind sie in Sarajevo zurückgeblieben, als die meisten anderen Künstler flohen. Seitdem haben sie acht Stücke für die Menschen in der belagerten Stadt inszeniert. Nach der Lektüre des Romans mochte Pasovic kaum glauben, daß der Schriftsteller Paul Auster niemals in Sarajevo gewesen sei. Und auch die Zuschauer fragten den Verfasser von „Im Land der letzten Dinge“, der zur Aufführung der dramatisierten Version ins Podewil gekommen war, wie er die Zustände aus der Entfernung so exakt beschreiben konnte. Das Buch beschreibe jede moderne Großstadt im Zerfall, erwiderte Auster. Ursprünglich sollte der Roman „Anna Blumes Weg durch das 20. Jahrhundert“ heißen.
Das „Sarajevo Festival Ensemble“ hat es bei dieser Abstraktheit belassen. Die zwölf Gestalten auf der Bühne haben keine Namen. In Klamotten von unauffälliger Armseligkeit sitzen sie auf niedrigen Kissen um die Spielfläche herum, aufrecht erst, dann immer mehr in sich zusammensackend. An Bosnien läßt nur der schöne, aber abgetretene orientalische Teppich in der Mitte denken. An seinem Rand stehen zwei Wasserkanister, ein Becher und eine Schale. Ein Mann und eine Frau demonstrieren, wie man sich mit einer Handvoll Wasser die Zähne putzt, sich wäscht, sich die Beine rasiert. Auf ihrer kurzen Tour durch Europa hat die Truppe schon Gastspiele in Paris, Amsterdam und Straßburg gegeben. In Berlin übernahm Michael König vom Schaubühnen- Ensemble die Rolle des Erzählers. Sachlich und eindringlich las er Auszüge aus den ersten vierzig Seiten des Romans. Andere Passagen sangen die Schauspieler, einzeln und im Chor, mal auf die Melodien von Volksliedern, mal zu indischer oder afrikanischer Musik.
Als die Selbstmörder-Sekten der Sterbenden Stadt beschrieben werden, rücken alle in einen engen Kreis und stimmen einen ekstatischen Gesang an. Soviel Gemeinsamkeit, wurde in der folgenden Diskussion eingewandt, komme im Roman doch gar nicht vor. „Aber das ist das, worauf es in dieser Situation ankommt“, entgegnete der Regisseur: „Selbst frei zu bleiben und mit anderen freien Menschen zusammen zu sein.“ Miriam Hoffmeyer
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