: Die Alpträume kamen erst in Berlin
■ Die Berliner Ärztin Anne von Bülow fährt am kommenden Sonntag zum zweiten Mal zu einem Hilfseinsatz ins zairische Goma / Bülow: Irgendwann hat es nicht mehr gereicht, sich mit Spenden freizukaufen
Anne von Bülow, 52, war mit dem ersten – umstrittenen – Hilfstrupp von „Care Deutschland“ zwei Wochen im zairischen Flüchtlingscamp Kibumba, das eine Stunde Autofahrt nördlich von Goma liegt. Für ihren Einsatz hatte die Ärztin mit eigener Praxis Medikamente wie etwa Augen- und Ohrensalbe und Antibiotika im Wert von 10.000 Mark mitgenommen. Das Geld hatten Freunde, Kollegen und Nachbarn gespendet. Am Sonntag fährt von Bülow noch einmal in das Lager, in dem immer noch mehr als hunderttausend Menschen leben. Zusammen mit Kollegen gründet von Bülow demnächst einen Arbeitskreis aus Berliner „Katastrophenmedizinern“.
taz: Haben Sie in diesem Jahr schon Urlaub gemacht?
Anne von Bülow: Nein, meinen Sommerurlaub habe ich sozusagen in Goma verbracht.
Waren Sie vorher schon in Afrika?
Nein. Ich habe mir dieses Land nicht einmal vorstellen können. Ich hatte nur diese Bilder von Flüchtlingslagern vor Augen. Das hätte auch in Rußland gewesen sein können oder in Bosnien.
Hatten Sie ein Schlüsselerlebnis, das Sie nach Goma trieb?
Ja, ich sah einen Fernsehbericht. Ganz schauderhafte Bilder. Sonst spende ich immer – kaufe mich damit frei – und habe ein Patenkind in Indien. Irgendwann habe ich einen Knacks gekriegt: Das reicht jetzt nicht mehr, irgendwem für irgend jemanden Geld zu geben.
Was ist Ihnen aufgefallen, als Sie das Camp erstmals betraten?
Die unendlich traurigen Blicke der Kinder. Sie haben Gesichter, als wären sie 100 Jahre alt, und sie haben Augen, die total stumpf sind. Wie man sie bei den Toten sieht. Sie haben grauenvolle Sachen mitansehen müssen: der Oma hat man den Schädel gespalten, dem Vater den Arm abgehackt.
Die Bilder wird man nicht mehr los. Im Hintergrund sehe ich das immer noch. Da ist ein leichter Dunstschleier, weil alle mit feuchtem Holz die Bohnen vom Roten Kreuz kochen. Das beißt in den Augen, in der Nase. Man sieht Grashütte an Grashütte auf einem leicht hügeligen Gelände, auf Lavagestein, schwarzes, ganz hartes Gestein. Es stank bestialisch. Ganz gemein nach Kot, nach Verwesung. Verbrannt und modrig.
Reden die Menschen?
Nein, sie waren gespenstisch still. Alle sind ganz apathisch. Ich habe keinen Menschen weinen sehen, das begreife ich bis heute nicht. Babys haben geschrien, wenn man ihnen eine bittere Pille gegeben hat. Aber ich habe keinen Erwachsenen auch nur eine einzige Träne vergießen sehen. Selbst dann nicht, wenn ich jemandem den eitrigen Finger aufgeschnitten oder Infusionen mit dicken Kanülen gelegt habe. Die zucken nicht mal mit dem Arm oder der Hand.
Was war das Schlimmste, was Sie erlebt haben?
Einmal war ich völlig fertig. Da brachte man uns einen Jungen, zwölf Jahre alt. Der war bewußtseinsgetrübt und hatte Krampfzustände: Hirnhautentzündung. Wir versuchten, ihn zu behandeln, aber es war zu spät. Kein Krankenhaus hätte ihn genommen, denn es war klar, daß er in zwei Stunden tot sein würde. Ich sagte zu meinen Sanitätern: „Es dreht sich mir der Magen um, aber wir müssen den Jungen an den Straßenrand legen, obwohl er noch nicht tot ist.“ Die Toten legt man an den Straßenrand und wickelt sie in eine Plane. Es regnete furchtbar. Dann haben die Sanitäter den Jungen genommen und ihn an den Straßenrand gelegt.
Wie haben Sie so etwas verkraftet?
Durch Arbeit. Ich habe mich auch mit ein paar Ärzten und Krankenschwestern gut angefreundet. So konnte ich mich schon mal zu einer auf die Liege legen und heulen. Jeder hat von diesen Flüchtlingen so viel auf einmal, und wenn er nichts hat, ist er unterernährt. Und in Deutschland kommt einer und macht großes Geschrei, weil er eine Warze hat. Außerdem hatten wir noch einen Psychologen unter uns, der jederzeit ansprechbar war bei Kummer.
Haben Sie in Goma schlecht geträumt?
Da habe ich überhaupt nicht geträumt. Aber hier in Berlin jede Nacht. Jede Nacht Alpträume.
Was sind das für Menschen, die freiwillig zwei Wochen in ein Flüchtlingscamp fahren?
Einige gehen zu blauäugig an die Sache ran, nach der Devise: „Ach, ich muß denen doch helfen!“ Manche fuhren nach drei Tagen wieder zurück. Viele junge Pfleger sind es nicht gewöhnt, fünf Anordnungen zu behalten. Es hat in unserem Lager auch junge Ärzte gegeben, die medizinisch der Sache nicht gewachsen waren. Man muß eine Lungenentzündung schon hören können, sonst braucht man nicht nach Goma zu fahren. Einige konnten auch nicht improvisieren. Die wissen nicht, wie sie eine Hirnhautentzündung behandeln müssen. Und dann fahren sie nach Hause und schimpfen auf Care.
Können Sie die Kritik am Mißmanagement von Care nachvollziehen?
Kommt darauf an, wie man es betrachtet. Wenn man als ordentlicher Deutscher sagt, erstens war die Iljuschin kaputt, zweitens war keine Zeltstadt errichtet, drittens waren Listen nicht fertig – wenn man sich daran hochkrebst und sagt, das ist alles ganz schlecht, das hätte man vorher regeln müssen, dann ist das sachlich richtig. Aber es ist unwichtig.
Wie vielen Menschen haben Sie geholfen?
Wir haben etwa 200 Menschen das Leben gerettet und 2.000 behandelt.
Müssen Sie sich in Berlin manchmal rechtfertigen, daß Sie nach Goma fahren?
Ein Patient sagte zum Beispiel: Was wollen Sie denn bei den Affen, wir haben doch hier genug.
Was sagen Sie solchen Menschen?
Daß es den Leuten in Goma einfach beschissen geht. Interview: Thorsten Schmitz
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