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Das Theater schlägt zurück

„Knock out Deutschland“: Das Musical zur Lage der Nation. Linke Gerade, Deckung, rechter Haken. Und das in Chemnitz!  ■ Von Dirk Nümann

Acht, neun, zehn. Aus. Am Ende explodiert eine Bombe, die Leinwand über der Bühne zeigt ein Trümmerfeld, ein rußschwarzer Ansager wünscht einen guten Abend. Obwohl gerade dieser Abend vielleicht kein guter Abend ist. Denn gerade an diesem Abend vor der Wahl wurde Deutschland im Theater symbolisch ausgezählt. Acht, neun, zehn. K.o.

Tatort war Chemnitz, die etwas verschlafene Stadt. Hier ereignet sich nun die Uraufführung von „Knock out Deutschland“. Ein Musical mit Songs von Rio Reiser, König von Deutschland. Eine Provokation?

Nein nein, eine ganz einfache Geschichte. Linke Gerade, Deckung, rechter Haken. Oder anders erzählt: Während der Titelkampf zwischen dem deutschen Meister Harry Hammer und dem „Schwarzen Kojak“ Dietrich in der Wettkampfhalle tobt, spielt der alltägliche Kampf des Lebens in der Vorhalle unter den Nichtkartenbesitzern. Hier tragen der eben „abgebaute“ Lucky, seine Braut Barbie, Striker und Lula ihre Beziehungskämpfe nach der Vorlage von Horvaths „Kasimir und Karoline“ aus. Hier fallen in den Pausen die Zuschauer wie eine Menschenlawine ein, um ihren Lotterieschein abzugeben. Hier werden Ausländer verprügelt, hier gibt der schleimige Abgeordnete der FDU, Dr. Best, Fernsehinterviews und verteilt Zahnbürsten. Und als Running Gag versucht ein selbsterwählter Jesus mit immer neuen Bombenkreationen die Menschheit vom Leben zu erlösen. Mit Erfolg. Siehe nach oben. Zum Himmel.

Alles dreht sich natürlich ums Boxen. Boxen ist Kapitalismus, Wettbewerb, Medienspektakel, Monaco, Claudia Schiffer, Porsche 911, Kameradschaft, Disziplin, Härte, Männlichkeit. Es ist auch der deutsche Weltmeister Henry Maske, der Schläger-Gentleman, genannt „Sir Henry“. Und es ist die Gewißheit, daß der Boxer als Held irgendwann einmal kaltgestellt, äh, ausgezählt wird.

Die Loser sind nämlich die Helden in Chemnitz. Nachdem Pläne eines Maske-Musicals in dessen Geburtsstadt Frankfurt/Oder aus Krähwinkelei scheiterte, haben der Regisseur Armin Petras und sein Bühnenbildner Philipp Stölzl ihr gemeinsam geschriebenes Stück neu geschrieben: weg vom Einzelheroen der Vergangenheit hin zu den Verlierern der Gegenwart. Hin zu den Tragödien des Alltags, die freilich so banalisiert sind, daß sie immer ins Lächerliche abrutschen.

Zum Beispiel Liebe in Deutschland: „Ja ist denn ein Kuß gar nichts mehr wert“, fragt Barbie ihren arbeitslosen Verlobten, der nur im Weggehen murmelt: „Nein.“ – Zum Beispiel Ausländerintegration: Zwei Bilderbuchrumänen, denen Zwiebelknollen aus den Hosentaschen baumeln, lernen dank ihres Radiorecorders Deutsch: „Bitte sprechen sie nach: Wo gehts hier zum Notarzt.“ Zum Beispiel eine gescheiterte Existenz: Über sein verpfuschtes Leben hält der Trainer des Champions Hammer einen langen, ernsten Monolog, bestellt dabei Tomatensaft, bekommt jedoch hellen Apfelsaft, trinkt, redet, bestellt noch einen Tomatensaft, bekommt noch einen Apfelsaft und stellt dann traurig fest: „Irgendwas läuft falsch in meinem Leben.“

Ja, bei vielen Personen läuft irgend etwas falsch. Sie sind schwach und klein. Sie zappeln im Netz der Zeit, ohne sich daraus befreien, geschweige denn ihre Lage richtig einschätzen zu können. Sie leiden unter heftiger Sehnsucht, doch sie wissen nicht so recht, wohin damit. Sie sind gewisserweise in Wartestellung. Sie warten darauf, an dem großen Boxkampf des schöneren Lebens teilnehmen zu können. Freilich gelten sie als gänzlich ungeeignet dafür, noch nicht mal als Zuschauer; sie haben kein Ticket nach oben! Drum müssen sie in dem von Philipp Stölzl gebauten fensterlosen runden Gang um die Sportarena ausharren: einem grauen Parkhaus für Menschen. Bewacht von einem Bewacher, verhöhnt von einer Kiosk-Aufschrift: Lotto-Glück. Nur ein Monitor verbindet sie mit der Kampfarena: Darauf erscheint Werbung, die Lottofee und immer wieder ein goldener Groschen, der fällt. Nur bei ihnen nicht.

Was sie nicht aussprechen können, erzählen die balladesken Reiser-Songs zwischen den Spielszenen: „Alle sind daneben / jagen nach dem Leben“. Oder:„Glauben, lieben, hoffen / meistens nur besoffen“. Lieder über Autos, Reisen, Neid, den Glauben an das winzige Glück. Lieder mit Endreim, einfach und unmißverständlich. Von der Gruppe „Herrliche Welt“ rockig-melodisch musiziert, fast herrlich göttlich.

„Knock out Deutschland“ ist also nicht der befürchtete oder ersehnte Skandal. Es ist ein Stück mit Musik und Tanz nicht nur für Jugendliche über diese und jene Sorgen unserer Zeitläufte, die zerstörten Sehnsüchte, die Qualen der Fernsehwelt, über Sprücheklopfer und diese und jene Schweinereien von heute. Ein Stück ohne jede Larmoyanz oder falsche Vater- Grips-Pädagogik. Da ist Regisseur Armin Petras vor. Und doch lebt die Inszenierung vom schauspielerischen Detail, von der Liebe zu den unglücklich komischen Helden. Ein kleiner Punktsieg des Theaters, wenn auch nicht über Deutschland, so doch ein Sieg über das deutsche Theater, das sich dem wohlfeilen Amüsement verschrieben hat und gerade im Osten versucht, mit Musicals just for fun das verlorene Publikum zurück ins Parkett zu locken. Petras bedient die Form und erweitert sie. So schlägt das Theater in Chemnitz zu. Linke Gerade, Deckung, rechter Haken. Acht, neun usw.

„Knock out Deutschland“. Musical von Rio Reiser. Nächste Vorführungen: 30. u. 31. Oktober, 14. u. 22. November.

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