: Das zweite erste Mal
■ Seit vorgestern tagt die neugewählte Fraktion der Bündnisgrünen. Die Personalentscheidungen sind gefallen: Joschka Fischer wird Fraktionsvorsitzender, Antje Vollmer ist als Vizepräsidentin des Bundestags ...
Seit vorgestern tagt die neugewählte Fraktion der Bündnisgrünen. Die Personalentscheidungen sind gefallen: Joschka Fischer wird Fraktionsvorsitzender, Antje Vollmer ist als Vizepräsidentin des Bundestags nominiert. Die Fraktion präsentiert sich in fast schon überraschender Geschlossenheit.
Das zweite erste Mal
Ein idyllisches Dörfchen hat sich die neue Bündnis/Grünen-Fraktion ausgesucht, um sich zu konstituieren: Röhndorf am Rhein, wo Adenauer einst Rosen züchtete. Seit vorgestern tagen da die frisch gewählten ParlamentarierInnen und können sich alle Zeit nehmen. Denn im Fall des Falles hätte die Fraktion in den vorsorglich angemieteten Tagungsräumen des Bellevue-Hotels die jetzt ausgiebig diskutierten Personalfragen ganz schnell und parallel zu Koalitionsverhandlungen abhaken müssen.
Joschka Fischer wurde Dienstag nacht so glatt wie erwartet als Fraktionsvorsitzender gewählt, Antje Vollmer soll für die Vizepräsidentschaft im Bundestag präsentiert werden. Gestern durfte dann jede und jeder ausführlich erzählen, für welchen Parlamentsausschuß er oder sie sich qualifiziert und berufen fühlt.
„Das war für mich geradezu der Urknall an Politikerlebnis. Ich habe noch nie eine so gute Personaldebatte erlebt.“ Andrea Fischer, frisch in den Bundestag gewählte Abgeordnete aus Berlin, ist ganz euphorisch über das Klima in der zukünftigen Grünen-Fraktion. Viel besser als insgeheim befürchtet sei diese konstituierende Sitzung der Fraktion gelaufen und berechtige zu den schönsten Hoffnungen für die Zukunft. Auch andere Neulinge in Bonn strahlen übers ganze Gesicht, sobald sie sich vor der Tür des Sitzungssaales sehen lassen. Nur sagen dürfen sie nichts, man habe schließlich Vertraulichkeit vereinbart – die Zeiten der öffentlichen Fraktionssitzungen sind endgültig vorbei.
Die „gute Personaldebatte“ endete für die meisten Beobachter mit einer Überraschung. Zur zweiten Chefin der Fraktion neben dem unumstrittenen Joschka Fischer wurde nicht wie allgemein erwartet die Listenführerin aus Nordrhein-Westfalen, Christa Nickels, sondern ihre Kölner Kollegin Kerstin Müller gewählt.
Kerstin Müller, 30 und kürzlich aus dem zweiten juristischen Staatsexamen siegreich hervorgegangen, gehört zu den Frauen der jüngeren Generation und wurd parteiintern bereits seit einigen Monaten als großes politisches Talent gehandelt. Als moderate Linke paßt sie darüber hinaus im Strömungsproporz zu Fischer. Joschka F., wiewohl mittlerweile längst über allen unterschiedlichen Gruppen innerhalb der Partei schwebend, wird ja nach wie vor als Realo gezählt.
Ein neues Gesicht in den Vordergrund rücken
Das strömungspolitische Argument hat aber nach Auskunft diverser Diskutanten nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Während die einen auf die Erfahrung und persönliche Standfestigkeit von Christa Nickels setzten – die ja schon einmal Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen- Fraktion war – wollten die anderen neben Fischer, Antje Vollmer und Werner Schulz auch ein neues Gesicht in der Vordergrund rücken. „Das Argument mit der Erfahrung“, so eine andere Newcomerin, „ging im Laufe der Debatte doch zunehmend auf die Nerven.“ Als dann auch noch der zweite Patriarch der Fraktion, der Realo Rezzo Schlauch aus Stuttgart, sich für Kerstin Müller stark machte, zog Christa Nickels ihre Kandidatur zurück.
Ein bißchen ein flaues Gefühl, so gesteht Kerstin Müller später, hat sie natürlich schon. Die letztlich mit 28 von 49 Stimmen gewählte Fraktionschefin weiß, daß sie nur etwas ausrichten kann, wenn Fischer ihr „den Raum dazu läßt“. Das wird für die beiden anderen, jetzt in herausragende Position gewählten AbgeordnetInnen nicht so schwierig werden. Antje Vollmer braucht der Öffentlichkeit nicht erst noch vorgestellt zu werden. Und auch Werner Schulz, einer der fünf bürgerbewegten Abgeordneten aus dem Osten, wurde ohne Konkurrenz und ohne große Debatte als Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion gewählt – eine Aufgabe, die er auch innerhalb der Bundestagsgruppe von Bündnis 90 in der letzten Legislaturperiode wahrgenommen hatte.
Wer soll den Osten an der Parteispitze vertreten?
Klar, daß die Grünen damit auch ihren darniederliegenden Landesverbänden im Osten signalisieren wollen, daß man sie nicht vergißt, aber genauso klar war auch, daß Schulz die Arbeit von allen zugetraut wird. Nicht ausdrücklich angesprochen, aber im Hinterkopf immer präsent bei der Personaldebatte der Fraktion ist die zukünftige Besetzung des Parteivorstandes. Der bisherige Parteisprecher Ludger Volmer muß nach seiner Wahl in den Bundestag sein Parteiamt niederlegen, und die bisherige zweite Sprecherin, Marianne Birthler, hat zwar den Einzug in den Bundestag verpaßt, will aber angeblich trotzdem nicht wieder für das Sprecherinnenamt kandidieren.
Damit hat die Partei ein Problem. Weder Jürgen Trittin, Ex- Minister aus Hannover, noch Krista Sager, Fraktionsvorsitzende der Bündnisgrünen in Hamburg, die beide jetzt als NachfolgerInnen für Volmer und Birthler im Gespräch sind, können den Osten in der Parteispitze repräsentieren. „Das geht nicht“, findet unter anderen auch die neue Fraktionssprecherin Kerstin Müller, „da muß noch weiter drüber geredet werden.“ Die neue bündnisgrüne Parlamentsfraktion, soviel steht jetzt schon fest, wird auf eine Reihe von Erfahrungen aus den vergangenen zwölf Jahren aufbauen und wesentlich geschlossener und disziplinierter auftreten, als man das von den früheren Grünen-Fraktionen gewohnt war. Das ist zum Teil den Veränderungen innerhalb der Partei geschuldet, zum Teil auch einem veränderten Selbstverständnis der ParlamentarierInnen. Vor allem aber eint die Fraktion ein Gedanke: An uns soll und wird ein baldiger Machtwechsel in Bonn nicht scheitern. Jürgen Gottschlich
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