: Auf der Achterbahn
Neue Studien widerlegen die These von der Zweidrittelgesellschaft: Es wird kein armes Drittel dauerhaft vom Rest abgekoppelt. Aber immer mehr Menschen müssen vorübergehende Armut fürchten: „Ein Gefühl der Bedrohung.“
Seit einigen Jahren beherrscht die These von der Zweidrittelgesellschaft die soziologische Diskussion in Europa. Peter Glotz brachte sie in Deutschland zuerst auf, Ralf Dahrendorf verficht sie in „Der neue soziale Konflikt“, auch der Franzose Alain Touraine schließt sich ihr an. Sie ist ein Versuch, die „neue Unübersichtlichkeit“ zu beschreiben: Zwei Drittel der Gesellschaft grenzen das untere Drittel zunehmend aus – dieses untere Drittel ist an die Stelle des alten, vergleichsweise kompakten Proletariats getreten.
Aber die Wirklichkeit ist komplizierter. Neue Studien machen zweifelhaft, ob der Begriff der Zweidrittelgesellschaft zu ihrer Beschreibung taugt. Viele Menschen erleben ihre Biographie eher als Achterbahn, das Leben als Auf und Ab durch verschiedene Einkommenslagen. Die oberen zwei Drittel sind nicht vorm Fall gefeit, die Angst vorm Abwärts prägt viel weitere Teile der Gesellschaft als bisher angenommen. Allerdings gibt es auch immer die Hoffnung auf den Wiederaufstieg.
Anne Soltau geht es wieder besser
Anne Soltau* lebte bisher zweimal an der Armutsgrenze. Das erste Mal nach ihrem Kunststudium, bevor sie einen gutdotierten Job als Graphikerin fand. Das zweite Mal nach der Geburt ihrer Tochter, die sie als Sozialhilfeempfängerin in den ersten Jahren allein großziehen mußte. Heute ist die 39jährige verheiratet, das Paar gehört zu den „Doppelverdienern“. Ein Ab und Auf wie in Anne Soltaus Biographie erleben viele „Armuts-Betroffene“ in Deutschland.
„Phasen materieller Knappheit scheinen für viele – und vielleicht für immer mehr – Männer, Frauen und Kinder eine ,normale‘, wenn auch meist nur befristete Episode darzustellen“, resümiert der Münchner Soziologe Peter Berger. Sein Beitrag gehört zu einem Sammelband neuerer soziologischer Studien, die unter dem Titel „Einmal arm, immer arm?“ jetzt erschienen sind (Campus-Verlag). Hauptaussage der ForscherInnen: Die meisten Armen finden wieder den Weg nach oben – das Risiko, vorübergehend finanziell abzusacken, hat für alle Bürger aber zugenommen. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist gestiegen, im Westen leben etwa 3,1 Prozent der Bevölkerung vom Sozialamt (Osten: 1,8 Prozent). Eine Längsschnittstudie aus Bremen aber belegt, daß nur die wenigsten Empfänger „Langzeitbezieher“ sind. Nur 14 Prozent der Sozialhilfe-Antragsteller von 1983 in Bremen bekamen lange Zeit, im Durchschnitt 63 Monate, Stütze vom Sozialamt. 57 Prozent entpuppten sich als „Überbrücker“ mit einer mittleren Verweildauer von nur vier Monaten. Der Rest pendelte zwischen „Stütze“ und anderen Einkünften. Im Durchschnitt bezogen die Leistungsempfänger neun Monate lang Geld vom Sozialamt.
Auch die Mittelschicht sitzt in der Achterbahn
„Diese Ergebnisse zeigen, daß für die Mehrheit der Sozialhilfeempfänger die Sozialhilfephase ein mehr oder weniger gedehnter Übergang ist, aber keine dauerhafte Deklassierung“, folgern die Bremer Sozialforscherinnen Monika Ludwig und Petra Buhr. Daß zwar immer mehr Menschen Sozialhilfe beziehen, sich die Bezugsdauer aber sogar verkürzt, legen Ergebnisse aus Bielefeld nahe.
Hier wertete der Soziologe Hans-Jürgen Andreß die Daten von 16.328 Haushalten aus, die zwischen 1977 und 1990 Sozialhilfe bekamen. Ergebnis: Wer zwischen 1977 und 1980 einen Antrag auf Sozialhilfe stellte, blieb fast dreimal solange auf „Stütze“ hängen wie diejenigen, die erst 1989 oder 1990 beim Sozialamt auftauchten. „Die Bewegungen in die Sozialhilfe und aus ihr heraus haben sich beschleunigt“, stellt Andreß fest.
Wer einmal eisern knapsen mußte, vergißt diese Erfahrung aber nicht. „Das eigene Erleben von Knappheit und Mangel, das als biographische Erfahrung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, wird in vielen Fällen ein Gefühl der fortbestehenden Bedrohung hinterlassen.“ Denn „Armut“ bleibt für die meisten zwar nur ein vorübergehender Zustand – trotzdem aber ist die Zahl derer, die zeitweise unter die Armutsgrenze fallen, erstaunlich hoch, so Peter Krause, Soziologe am Berliner Wirtschaftsinstitut DIW. Die „Armutsgrenze“ wird dabei auf die Hälfte des Durchschnittseinkommens aller befragten Haushalte im sogenannten sozioökonomischen Panel (SOEP) festgesetzt. Ein westdeutscher vierköpfiger Haushalt mit einem Vorschulkind beispielsweise hat im Durchschnitt monatlich 4.151 Mark zur Verfügung (Osten: 2.875 Mark). Mit einem Nettoeinkommen von weniger als 2.075 Mark unterschreitet die Familie die Armutsgrenze (Osten: 1.437 Mark).
Wer Kinder zeugt, wird schneller arm
Rund ein Drittel der westdeutschen Bevölkerung sackte in den Jahren 1984 bis 1992 mindestens einmal unter diese Grenze. Unter der ausländischen Bevölkerung waren dies sogar 60 Prozent. Dauerhaften Armutsperioden von acht und mehr Jahren unterlagen im Neunjahreszeitraum aber nur 2,4 Prozent der Bevölkerung. Von denen, die einmal knapsen mußten, erreichen die meisten auch in besseren Zeiten nur ein eher niedriges Einkommen. Das Risiko zumindest kurzfristiger Armut reicht aber dennoch „bis weit in die mittleren Einkommenslagen hinein“, so Krause. Von denjenigen, die 1992 etwa ein Durchschnittseinkommen hatten, waren in den letzten sieben Jahren immerhin etwa fünfzehn Prozent mindestens einmal unter die Armutsgrenze gesackt. Trotz der hohen Armutsdynamik haben es die Reichen besonders gut: sie sind nämlich noch reicher geworden. Zwischen 1984 und 1990 stieg das Durchschnittseinkommen des unteren Sechstels in Westdeutschland um 17, das im oberen Segment aber um 27 Prozent, stellte der Münchner Soziologe Peter Sopp fest. Das Auf und Ab auf der Achterbahn durch verschiedene Einkommenslagen richtet sich nach vielen biographischen Entscheidungen und Ereignissen, nicht nur nach Schicksalsschlägen wie Arbeitslosigkeit oder Krankheit. „Gewichtigster Faktor bei den Auf- oder Abstiegen ist die Veränderung der Haushaltsgröße“, stellt Sopp fest. Die Geburt eines Kindes etwa und der Ausstieg der Ehefrau aus dem Job können ein Familieneinkommen schlagartig in die Nähe der Armutsgrenze von 2.075 Mark drücken. Läßt sich die Frau dann noch scheiden und macht einen zweiten Haushalt auf, ist ein weiterer finanzieller Abstieg vorprogrammiert. Andersherum können ein neuer Partner und ein neuer Job der Frau das Haushaltseinkommen der Doppelverdiener schlagartig wieder in die Mittellage heben. Wenn dann noch eine Erbschaft dazukommt, sind die Zeiten der Armut nur noch graue Erinnerung.
Alleinerziehende bieten das beste Beispiel solcher biographischer Einschnitte. Besonders lange – im Schnitt 40 Monate – blieben in Bielefeld die alleinerziehenden Leistungsempfänger auf das Sozialamt angewiesen. Aber deren Statusbewußtsein entspricht nicht zwangsläufig dem gängigen Klischee der armen, gebeutelten Mutter, deren Sozialhilfestatus sich auf die Kinder vererben muß. „Die meisten der von uns untersuchten alleinerziehenden Sozialhilfeempfängerinnen hatten einen mittleren bis höheren Schulabschluß“, erzählt die Berliner Politologin Eva Mädje, die Westberliner Alleinerziehende befragte. Die Frauen begriffen ihren Status als vorübergehend und sich selbst durchaus als handlungsfähig. Wenn aber mehrere Risiken wie Arbeitslosigkeit, schlechte Qualifikation und das Älterwerden zusammenkommen, kann die Fahrt auf der Achterbahn zum Absturz werden. Der Münchner Sozialforscher Gerd Mutz fand heraus, daß mehr als die Hälfte der von ihm untersuchten Erwerbslosen zwar wieder einen Job fand – aber viele wurden danach wieder arbeitslos. Je häufiger die Betroffenen zwischen Job und Arbeitslosigkeit pendelten, desto riskanter wurde die Erwerbsbiographie.
Nicht die Möglichkeit vorübergehender Armut wird daher von vielen Sozialforschern als größte Gefahr betrachtet, sondern die ungleichen Chancen, aus diesem Zustand dauerhaft herauszukommen. Das eigentliche Armutsrisiko verlagere sich daher „auf die Austritte“, meint Berger. Und die werden mit zunehmendem Alter schwieriger. 75 Prozent der Arbeitslosen, die länger als zwei Jahre keinen Job finden, sind älter als 45 Jahre (Westen). Armut ist also auch ein Kampf gegen die Zeit. Barbara Dribbusch
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