: Täglich tausend Tonnen Tlustec
Lukrativer Basaltabbau macht in Nordböhmen die Berge platt / Die Höhe des Tlustec verringerte sich von 587 auf 420 Meter / Nun wehren sich Künstler aus Ost und West gegen die Zerstörung ■ Aus Lemberk Detlef Krell
Der Garten auf dem Gipfel des Schloßberges liegt hinter einer Mauer aus Feldsteinen. Die Pforte steht offen, eine löchrige Brettertür, gekrönt von einem schiefen Giebeldreieck. Verwitterte Steinstufen führen zu einer parkähnlich bepflanzten Terrasse. Hier steht unter Laubbäumen ein moosgrüner Sandstein-Barocktisch.
Wenige Schritte sind es bis zu diesem Tisch, und exakt in der Sichtachse, auf der nächsttieferen Terrasse, erhebt sich eine Säule, eingefaßt von einem ebenerdigen Brunnen. Am Rande der von hier aus nur zu erahnenden Anlage liegt eine längst verlassene Villa. Am Horizont zeichnet sich eine Bergkette ab, und irgendwo da unten im Tal ahnt man die uralte böhmische Stadt Jablonné v Podještědi, auch Deutsch-Gabel genannt.
Irena Vlková deckt schweres, weißes Porzellan auf. Vier Gedecke, Messer, Gabel, Löffel, Servietten. In die Mitte des Tisches stellt sie eine Schüssel voller mundgerechter mattgrauer Steinbröckchen: Phonolith, in den Geologiekapiteln der Reiseführer oft Klingstein genannt, weil das vulkanische Gestein unter dem Hammer einen glockenhellen Klang gibt. Rosinen aus Stein auch in dem Gebäck, das Irena den Ehrengästen serviert. Dann wählt sie vier noch gut erhaltene Gartenstühle aus; zuletzt arrangiert sie die Tischkärtchen. Eingeladen zum Festmahl im Barockgarten sind: Dr. Ing. Václav Klaus, Ministerpräsident der Tschechischen Republik, Dr. Ing. Karel Dyba, Wirtschaftsminister, Ing. Vladímir Dlouhý, Minister für Industrie und Handel, Ing. František Benda, Umweltminister.
Das groteske Mahl bleibt unberührt, die geladenen Herren haben in aller Form abgesagt. Das 5. Internationale Bildhauersymposium im Bredovský-Sommergarten des Schlosses Lemberk wird heute mit einer Vernissage beendet. Der Einladung gefolgt sind Leute aus der nahen Stadt und aus Basel, aus Großhennersdorf und aus Prag, aus Zittau, Zürich und Liberec.
Elf Künstler aus der Schweiz, aus Deutschland und der Tschechischen Republik waren einen Sommer lang Gäste der Lemberk-Stiftung. Sie konnten sich einfühlen in diesen Garten mit seinen überwachsenen Freitreppen und versinkenden Mauern, mit den Sandsteinskulpturen aus der Werkstatt von Matthias Braun, dieses Genies böhmischer Barockkunst. Und sie haben ihre eigenen Figuren in diese Landschaft gesetzt.
Ein ungefähr fünfzigjähriger Mann mit markantem Kahlkopf, kurzem Vollbart und Hornbrille eröffnet die Ausstellung. Er spricht mit leiser Stimme, bedächtig die Worte wägend. Jacub Kaše ist die personifizierte Stiftung Lemberk. Gemeinsam mit Irena lebt er in dem einsamen Bauernhaus gleich neben dem Barockgarten. Als Prager Architekturstudent hatte er 1968 das Land verlassen müssen, nach zwei Jahren Exil war er aus Frankreich zurückgekehrt, um seinem schwerkranken Vater beizustehen.
Die Krankheit des Vaters hatte ihn zwar vor Gefängnis, aber nicht vor dem Arbeitsdienst bewahrt. In Lemberk fand er dann sein zweites, inneres Exil. Für wenig Geld konnte er das heruntergekommene Gehöft erwerben. Die Phantasie des Architekten ging im vergessenen Bredovský-Garten umher. Noch 1989, in den hoffnungsvollsten Tagen der Samtenen Revolution, gründeten Jacub und Freunde, daheimgebliebene und heimkehrende tschechische Künstler, die Stiftung Lemberk. Künstler aus dem Westen, wie der kanadische Bildhauer Bill Vazan, unterstützten das Projekt, die Unesco spendete Geld. Schon 1990 lud die Stiftung zum 1. Symposium nach Lemberk ein.
Bevor Jacub seine Gäste durch den Skulpturengarten führt, spricht er weniger über Kunst als über die umliegenden Berge. Der höchste heißt Tlustec, zu deutsch Toltzberg. Als „glockenähnlich geformte, fast gänzlich bewaldete und mit Rehwild besetzte“ 587 Meter hohe Basaltkuppe wird er in alten Wanderführern empfohlen. Caspar David Friedrich malte hier. Doch die Romantik ist vorbei, und zwar für immer. Den Berg hinauf windet sich eine breite Serpentine, und auf dieser Straße rollen täglich die Laster. Gerodet ist der Wald, längst gesprengt und verscherbelt die „Glocke“. Im Tlustec lagern 36 Millionen Kubikmeter Basalt, bestes Material für den Schotter, aus dem Straßen und Schienenwege gemacht sind.
Um eine Genehmigung brauchte sich der hier tätige tschechische Konzern Beron nicht zu kümmern. Am 17. September 1968 hatte das Verkehrsministerium der ČSSR grünes Licht für den Abbau des gesamten Berges gegeben – und das gilt bis heute. Acht Prozent des abgebrochenen Basalts werden nach Deutschland verkauft. 150 bis 200 tschechische Kronen, das sind 8 bis 11 Mark, bringt der Export einer Tonne Tlustec. 20 bis 40 Mark kostet sie auf dem deutschen Markt.
„Wir müssen die Berge retten“, verkündet Jacub Kaše, und manche Leute in dieser Gegend meinen, hier kämpfe Don Quichotte gegen die Windmühlen. Nicht allein der Tlustec wird platt gemacht, exakt von 587 auf 420 Meter. An zwei weiteren Bergen sprengt das britisch-tschechische Unternehmen Wimpey/Severokamen. Beide stehen wie der Tlustec im nordböhmischen Kreis Česká Lipa. Noch stehen sie. Dem einst 498 Meter hohe Tachov sollen in den nächsten zehn Jahren 2 Millionen Kubikmeter Basalt entrissen werden. Der Marsovický-Berg sieht schon heute aus wie ein schrägstehender Tisch. Bald wird er von 515 auf 395 Meter über dem Meeresspiegel heruntergehobelt und in dieser hügeligen Landschaft gar nicht mehr zu sehen sein. „Ich kann so nicht leben“, sagt Jacub, „wir bemühen uns um die Erhaltung der Villa und dieses Gartens, besorgen Sponsoren, versuchen, Künstler hierher einzuladen, und nebenan werden unsere Berge irgendwelchen privaten Konzernen überlassen.“ Die Landschaft zu retten, „das wäre auch ein Kunstwerk, wenn es gelingt“.
Der Bildhauer Paul Sieber kam aus Zürich nach Lemberk. Sein Aufenthalt wird von der Stiftung „Pro Helvetia“ finanziert. Beim Rundgang durch den Garten erzählt er von seiner „Begegnung“ mit dem böhmischen Basalt. Die Steinbrüche habe er von Photographien gekannt, den Stein zum erstenmal im Züricher Atelier bearbeitet. „Dann komme ich hierher nach Böhmen und treffe Jacub mit all diesen ökologischen Problemen. Das sind aber doch auch meine Probleme. Deshalb habe ich in diesem Symposium mit meiner Figur darauf reagiert.“ Sieber stellte drei Basaltsäulen auf einer Lichtung außerhalb des Gartens auf. „Die neuen Demokraten“ nennt er sie.
Andreas Schönfelder war aus dem heimatlichen Großhennersdorf zum Pfingstausflug über die nahe Bundesgrenze gekommen, als er Jacub und Irena zufällig kennenlernte. Was die beiden ihm über die Stiftung Lemberk und die ökologische Situation im Kreis Česká Lipa erzählten, verlangte geradezu nach Öffentlichkeit. „Wenn wir das Dreiländerprojekt Euroregion Neiße ernst nehmen wollen, müssen wir uns über die Grenzen hinweg für die Probleme der Nachbarn engagieren.“ Die Umweltbibliothek Großhennersdorf und der Verein „Begegnungszentrum im Dreieck“ organisierten gemeinsam mit Jacub und tschechischen Sponsoren eine Konferenz. Nach der Vernissage werden sie nach Straž fahren, in eine Kleinstadt, die wieder werden möchte, was sie Anfang des Jahrhunderts war: eine Sommerfrische am Stausee.
Plattenbauten, mittendrin eine barocke Kirche und am Horizont der Tlustec, das ist die Kleinstadt Straž pod Ralskem. Doch nur einen Spaziergang entfernt vom Badesee mit Hotel liegt ein Absetzbecken für radioaktiven Schlamm. Bis vor zwei Jahren wurde hier Uran gefördert. Nun strahlt die Suppe farbenfroh vor sich hin. Der Uranbergbau ist im Moment eingestellt. Es heißt, bis „Umweltauflagen“ erfüllt sind. Genauere Informationen gehören zu den wohlgehüteten Geheimnissen der zu der Tagung erscheinenden „Experten“.
An der Glastür des Kulturhauses hängt ein Pappschild: „Nadace Lemberk. Symposium.“ Der Saal füllt sich spärlich, ein halbes Dutzend Einwohner, eine Greenpeace-Gruppe aus Jablonne, tschechische und deutsche Journalisten, der Bürgermeister, eine Abordnung von Wimpey/Severokamen. Beron fehlt. Das Ergebnis der Diskussion hatte Jacub bereits am Vormittag, bei der Exkursion durch das verkaufte Gebiet, geahnt: „Die Unternehmen werden sagen, sie bauen weniger und weniger Gestein ab. Wir werden darauf hinweisen, daß die Berge dennoch immer kleiner werden.“
Etwa 2.500 Steinbrüche gibt es auf tschechischem Gebiet, davon 660 in geschützten Landschaften. Wirksame Umweltgesetze fehlen; seit 1992 hat das Prager Umweltministerium kein einziges neues Gesetz auf den Weg gebracht. Immer noch gilt sozialistisches Bergrecht. Wimpey-Vorstand Richard C. Shipley brilliert und beschwichtigt. An neun Standorten in Nordböhmen schürfe der Konzern nach Basalt, Kies und Sand. Selbstverständlich sei man dialogbereit, doch „Grundlage des Dialoges kann nur sein, daß wir mit dem Abbau weitermachen können, so umweltfreundlich wie möglich“.
Der Bürgermeister sitzt und schweigt, die jugendlichen Greenpeacler trauen sich nicht, etwas zu entgegnen. Einer Bürgerin, die darauf besteht, „daß hier keine Berge mehr vernichtet werden“, entgegnet Shipley lächelnd, hinterher werde alles wieder gut: „Es gibt ein Wiederherstellungsprogramm für alle unsere Standorte, das nicht nur mit der Regierung besprochen wurde, sondern auch mit der Bevölkerung, die hier lebt.“
Das ist eine rotzfreche Lüge. Wie die Basaltkuppen eines fernen Tages wieder modelliert werden sollen, mit Müll vielleicht, verrät Shipley nicht. Das ominöse Programm kennt niemand. „Können wir es mal sehen?“ fragt Andreas Schönfelder. Aber erst nachdem er dreimal nachgehakt hat, ringt Shipley sich zu einer Antwort durch: Nein, man habe kein Rekultivierungsprogramm, nicht einmal eine Idee. Das sei auch gar nicht nötig, erfährt das staunende Publikum, der Gesteinsabbau dauere doch noch zehn Jahre.
Der Tlustec ist verloren, wie der Tachov und der Marsovický. Das ahnt jeder hier im Saal. Vielleicht können Bruchstücke erhalten werden, Torsi, absurd wie Irenas Ministermenü auf dem Steintisch. Jacub hat nur eine Hoffnung: „Die Bevölkerung sensibilisieren, damit sie Druck auf die Regierung macht und Gesetze fordert, die jeden Raubbau an der Natur verhindern.“ Das wird schwer genug. Eine Ursache ortet er in der Geschichte: „Die Menschen leben noch nicht lange hier. Sie sind noch nicht zu Hause angekommen.“
In ihren Zeitungen können sie am nächsten Morgen eine der wenigen klaren Antworten Shipleys auf die Frage nachlesen, ob denn weitere böhmische Berge abgetragen werden sollen: „Yes.“
(Kontakt: Nadace Lemberk, Lemberk 2 Lvova, ČR-47125 Jablonné v Podještědi)
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