: Wo ist Harjit Singh?
Das demokratische Indien gab sich immer gern moralisch überlegen. Doch auch hier wird gefoltert, gemordet und „verschwinden“ Menschen ■ Von Caroline Moorhead
Wie China nach dem Massaker vom Tiananmenplatz ist auch Indien, was seine Menschenrechtsverletzungen angeht, immer glimpflich davongekommen. Ob das nun mit der Geschichte Indiens, den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen des Landes, seinem demokratischen Status zu tun hat oder ob die Regierung offizielle Beobachterbesuche von Menschenrechtsorganisationen einfach immer besonders effektiv abgewehrt hat – Tatsache ist, daß Indien gegenüber Ländern wie Sri Lanka und Birma immer eine gewisse moralische Überlegenheit hervorgekehrt hat. Obwohl es Berichte über Folter und Vergewaltigungen in Haft und Exekutionen gab, haben sie nur wenig Aufmerksamkeit erregt – nicht zuletzt, weil sie so schwer zu beweisen waren. Das wird sich jetzt vielleicht ändern. Menschenrechtsorganisationen haben endlich beschlossen, Untersuchungen über die Verbrechen zu erzwingen, die im Zusammenhang mit den Konflikten zwischen Regierungstruppen und bewaffneter Opposition in Kashmir und im Punjab immer wieder gemeldet wurden. Obwohl die indische Regierung einen kürzlich erschienenen amnesty-Bericht, der mindestens allein 208 in letzter Zeit verschwundene Menschen erwähnt, indigniert als „im wesentlichen falsch ... und geradezu anstößig“ von sich gewiesen hat, häufen sich Beweise für ein vernichtendes Urteil. Das Verschwindenlassen von Menschen und Folter wird, nach einem aktuellen Human-Rights-Watch-Bericht, in Indien inzwischen offenbar nicht mehr nur als zulässiges Mittel im Kampf gegen politische Gewalt, sondern als mögliches Modell erfolgreicher Revoltenbekämpfung gesehen.
Als amnesty im vergangenen Oktober seine Kampagne gegen das „Verschwindenlassen“ begann, war Indien auf der Liste der Schuldigen nur eines von insgesamt 24 Ländern. Bis in die späten Achtziger gehörte das Kidnappen von Dissidenten und Oppositionellen noch überhaupt nicht zu den Taktiken der indischen Polizei. Die Anzahl derer, die verschwinden, wächst jedoch rapide, und das Problem besteht darin, daß, sobald eine gewisse Toleranz einsetzt, diese Praxis nur sehr schwer wieder eingestellt werden kann. Einer der schlimmsten Aspekte des Verschwindens – nämlich daß keiner weiß, was passiert ist, und Angehörige fürchten, daß Erkundigungen das Leben der Verschwundenen gefährden – macht es zu einem effektiven Instrument, besonders in einem Land und für eine Regierung, die um jeden Preis ihrer Rechenschaftspflicht entgehen will. Und wenn doch einmal Leichen gefunden werden, wurden sie oft bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.
In ihrem Krieg gegen Militante in Kashmir und im Punjab behandeln indische Polizisten und Soldaten das Verschwinden von Menschen mit einer Kombination aus Lethargie, Ignoranz und Drohungen, wobei die Gerichte ihnen noch Vorschub leisten. Vorladungen vor Gericht werden ignoriert, Angehörige ermahnt, mit ihren Nachforschungen besser aufzuhören, und der Fall wird von einem zum anderen geschoben, Akten verschwinden, und Verantwortliche werden einfach versetzt.
Der Fall von Harjit Singh, der zur Zeit untersucht wird, kann womöglich nicht nur die Brutalität der Polizei aktenkundig machen, wie es vorher selten möglich war, sondern auch zum Modellfall für andere Opfer werden. Harjit Singh, der seit über zwei Jahren verschwunden ist, hat entschlossene Angehörige und Freunde in Großbritannien und darüber hinaus die volle Unterstützung mehrerer Menschenrechtsorganisationen für seinen Fall. Für sein Verschwinden wird, wie es aussieht, am Ende irgend jemand Rechenschaft ablegen müssen.
Harjit Singh war 22 Jahre alt und Vater von zwei kleinen Kindern, als er am 29. April 1992 von Polizisten aus einem Bus geholt wurde. Er war auf dem Weg zur Staatlichen Elektrizitätsgesellschaft des Punjab, für die er früher einmal gearbeitet hatte und wo er jetzt auf einen neuen Arbeitsplatz hoffte; monatelang war er in einem weit entfernten Dammbauprojekt beschäftigt gewesen – und zwar genau um zu vermeiden, was ihm jetzt geschah. Man verhaftete ihn und fuhr mit ihm davon. Ein Freund, der ihn begleitete, benachrichtigte die Familie, und Harjits Vater Kashmir Singh ging sofort los, um zu erfahren, was geschehen war. Nach vielen frustrierenden Gängen zu verschiedenen Polizeiwachen sagte man ihm, daß sein Sohn innerhalb von drei Tagen zurück wäre, wenn er 30.000 Rupien (etwa 1.500 Mark) vorbeibrächte.
Das war der Anfang eines Alptraums, der bis heute anhält. Das Geld wurde gezahlt, aber Harjit Singh blieb verschwunden. Eine Zeitlang dementierte die Polizei, ihn überhaupt verhaftet zu haben. Dann erfuhr die Familie auf anderen Wegen, daß ihr Sohn zum Mal- Mandi-Verhörzentrum in Amritsar gebracht und so schlimm gefoltert worden sei, daß er nicht mehr gehen könne; beide Arme und Beine seien ihm vermutlich gebrochen worden. Sein Vater fuhr unverzüglich nach Amritsar, wo ein mitleidiger Polizist zugab, daß Harjit dort festgehalten wurde, und zwar unter dem Verdacht, an einem von Terroristen ausgeführten Mord beteiligt gewesen zu sein. Dann hörte man, er sei bei einem Überfall im Kreuzfeuer erschossen worden. Die Polizei gab der Familie eine Urne mit Asche und sagte, es sei die seine.
Fünf Monate später wurde er erneut gesehen, diesmal in einem Polizeiauto im Beasdistrikt nahe Amritsar. Sein Vater schaffte es, ein Gericht dazu zu bringen, ihn durch einen dafür abgestellten Beamten per Haftbefehl suchen zu lassen. Als sie das Haftzentrum, in dem er angeblich festgehalten wurde, erreichten, war er verschwunden; allerdings war er gesehen worden, offenbar nackt und mit Ketten an die Wand gefesselt. Als die Zelle durchsucht wurde, fand man nur noch Handschellen. Zwei Leute aus dem Dorf, die den Beamten begleitet hatten, schworen eidesstattlich, daß sie Harjit erkannt hätten. Im Laufe der letzten 20 Monate sind insgesamt 27 Gerichtstermine anberaumt und in letzter Minute wieder abgesagt worden. Die Kosten für einen Rechtsstreit sind in Indien derart hoch, daß nur wenige Familien überhaupt genug Geld für solche Hartnäckigkeit haben.
An Singhs Fall ist so deprimierend, daß er so normal ist. Er ist nur einer von Hunderten unschuldiger Menschen, die dem permanent brutaler werdenden Krieg zum Opfer fallen.
In Kashmir, Indiens einzigem Land mit muslimischer Mehrheit, wird die Situation zusätzlich verkompliziert: zum einen durch ausländische Kämpfer, vor allem aus Afghanistan, mehr jedoch noch durch den wachsenden Streit zwi
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schen militanten Gruppen, von denen einige für die Vereinigung mit Pakistan, andere für einen unabhängigen Staat votieren. Kämpfe im Inneren des Landes führen zu Anschlägen gegen prominente Protagonisten dieser Auseinandersetzung, einige von ihnen wurden bereits ermordet.
Im Punjab, dessen Zwanzig- Millionen-Bevölkerung zu 60 Prozent aus Sikhs besteht, traf die Forderung nach größerer Autonomie auf totalen Widerstand in der Regierung, die in jeder Konzession eine Ermutigung für ähnliche Forderungen in anderen Teilen Indiens sieht. Außerdem fürchtet man in Delhi, daß jede Veränderung zu noch mehr Ärger an der ohnehin schon unsicheren Grenze mit Pakistan führen könnte. Die Gewalt im Punjab ist langsam, aber stetig gestiegen, seit Premierministerin Indira Gandhi 1984 von zwei Sikh-Leibwächtern umgebracht wurde.
Mit der Bekämpfung der Militanten sind 60.000 Polizisten betraut, und der Generaldirektor dieser Streitmacht, KPS Gill, ist dafür bekannt, seine Männer für ihre Erfolge gut zu entlohnen. Zwischen Januar 1991 und März 1993 gingen über 41.000 Sonderzahlungen an die Männer der punjabischen Polizeieinheit. Kürzlich wurde Gill mit der Aussage zitiert, daß die Sondereinheit den Punjab nicht eher verlassen würde, bis „der letzte Terrorist tot ist“. In Jammu und Kashmir wird der Kampf von Paramilitärs ausgetragen.
Für die Opfer ist der Unterschied zwischen Polizei und Armee unwichtig, denn das Resultat ist das gleiche: Haft oder Entführung, meistens Folter und mit ziemlicher Sicherheit darauffolgend die Ermordung. Für viele Gefangene lautet die offizielle Todesursache „Nierenversagen“; es wird durch das Hin- und Herrollen schwerer Gegenstände auf dem Körper herbeigeführt, wodurch eine schockartige Entgiftung stattfindet, mit der die Nieren nicht fertig werden. In einem Zeitraum von 33 Tagen starben in Kashmir im vergangenen Jahr 132 Menschen in Haft; in den letzten vier Jahren starben dort über 13.000 Menschen als Opfer des Krieges. Für den Punjab sind die Zahlen der Ermordeten und Verschwundenen ähnlich.
Nur öffentlicher Druck kann helfen
Opfer werden zunehmend auch diejenigen, denen man Mitgliedschaft in den für die Unabhängigkeit kämpfenden Organisationen vorwirft oder die man für Sympathisanten hält, aber auch solche, die man irgendeiner Verbindung zu jenen oder ihren Familien verdächtigt. Zunehmend sind auch Rechtsanwälte und Menschenrechtsaktivisten bedroht.
Am 16. August 1993 brach ein Menschenrechtsanwalt namens Kulwant Singh Saini mit seinem Auto auf, in dem auch seine Frau und sein kleiner Sohn saßen, um eine Klientin aus der Haftanstalt abzuholen. Sie verschwanden. Nach ein paar Tagen fand man ihre Leichen in einem Kanal. Der Fall ist nie untersucht worden. Wenn die Polizei tatsächlich einmal zugibt, jemanden in Haft zu halten, wird den Familien wenig später mitgeteilt, daß die Gefangenen Selbstmord begangen hätten, „auf der Flucht“ oder „im Kreuzfeuer“ erschossen worden seien – selbst wenn bekannt war, daß die Betreffenden zur angegebenen Zeit viel zu krank oder verletzt waren, um sich bewegen zu können.
Einer der wenigen Überlebenden, der neunzehnjährige Masroof Sultan, wurde nach fünf Schüssen in die Brust für tot gehalten und liegengelassen. Er erzählte, wie er immer wieder gefoltert wurde und man ihm schließlich die Beine gebrochen hatte, um ein Geständnis, Terrorist zu sein, zu erzwingen. Wie ein Polizist kürzlich einem Journalist von Reuters sagte: „Wer hier das Wort Unabhängigkeit ausspricht, kann sofort verhaftet werden. Das heißt: jeder.“ Sowohl in Kashmir als auch im Punjab kommen die Täter meist in Autos ohne Nummernschilder und mit geschwärzten Scheiben, sie tragen zivile, in der Regel weiße Kleidung.
Zwar ist im indischen Gesetz das Habeas-corpus-Recht gesetzlich verankert, in der Praxis wird es jedoch selten angewendet. Gesetzliche Zusicherungen werden schlicht ignoriert. Kein Polizist ist je wegen Verletzung der Menschenrechte verurteilt worden, und im Punjab befinden sich ständig etwa 70.000 Menschen auf der Grundlage von Paragraphen in Haft, die jedem internationalen Vertrag spotten.
Doch die Gewalt kommt nicht nur von einer Seite. In beiden Regionen entführen, foltern und morden auch die bewaffneten Kämpfer. Sie bedienen sich aus der Zeit der Teilung berüchtigter Taktiken, wie Busse anzuhalten und die Passagiere zu selektieren; der Teil, der der jeweilig agierenden Gruppierung als politischer Feind erscheint, wird erschossen. Kommen Polizisten oder Zivilisten in den Verdacht, den jeweils anderen zu helfen, werden auch sie ermordet. Allein 1992 wurden in Jammu und Kashmir 499 Ordnungshüter ermordet und 1.559 verletzt.
Die Rolle, die internationaler Druck in Sachen Menschenrechten spielen kann, ist nicht einfach, aber wichtig. Harjit Singhs Vater, der vor einigen Wochen sowohl in Großbritannien war als auch die Menschenrechtszentren in Genf und New York besuchte, ist der Meinung, daß nur öffentlicher Druck seinen Sohn am Leben halten kann; und Öffentlichkeitsarbeit ist unter Umständen auch der einzige Weg, auf dem Polizei und Armee daran gehindert werden können, ihn selbst und den Rest der Familie anzugreifen. Singhs Entscheidung ist mutig, denn natürlich versucht die Polizei die Angehörigen immer davon zu überzeugen, daß Schweigen die beste Politik ist. In einem Land jedoch, in dem zu verschwinden fast gleichbedeutend damit ist zu sterben, hat er vielleicht sogar recht.
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