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Kein Zoobesuch in der Türkei

■ Mit der Stiftung „Umverteilen!“ können Berliner Schulklassen seit sieben Jahren die Lebenswelt ihrer türkischen Mitschüler abseits von Touristenorten kennenlernen

Türkische Frauen mit Kopftüchern und langen Kleidern sitzen vor ihrem Dorfbackofen und strahlen mit ihrem blonden Gast aus Berlin um die Wette. Das ist eine von vielen Fotografien, die derzeit in der vierten Etage des Kreuzberger Rathauses ausgestellt sind.

Berliner Schulklassen haben seit 1987 die Möglichkeit, mit dem Projekt „Türkei er-fahren“ der Kreuzberger Stiftung „Umverteilen!“ Begegnungsfahrten in die Türkei zu unternehmen. Ziel von „Umverteilen!“ ist es, den Kindern abseits von Touristenorten die Lebenswelt ihrer türkischen MitschülerInnen und deren Familien näherzubringen. Dazu gehört dann auf jeden Fall ein Besuch in einem türkischen Dorf.

Um nicht den Eindruck eines Zoobesuches bei den Jugendlichen zu hinterlassen, veranstalten sie zusammen mit den türkischen Dorfbewohnern ein gemeinsames Projekt. In diesem Jahr war es zum Beispiel eine Mauer, die um die Dorfmoschee herum errichtet wurde und Renovierungsarbeiten an Gemeindegebäuden.

Von Kritikern des Projektes war geäußert worden, das Zusammenleben zwischen Türken und Deutschen sei inzwischen so zur Normalität geworden, daß keine Begegnungsfahrten mehr nötig seien. Doch bei einer Diskussionsveranstaltung zu Beginn der Ausstellung stellten die Teilnehmer fest, daß angesichts der zunehmenden Übergriffe gegen AusländerInnen solche Projekte immer wichtiger werden.

Außerdem gilt diese Selbstverständlichkeit des Zusammenlebens nur für den Westteil der Stadt. Vier Jahre nach der Vereinigung leben im Ostteil der Stadt sehr wenig Türken. Deswegen übernehmen Westberliner Schulklassen „Patenschaften“ – zwei Klassen fahren gemeinsam in die Türkei.

Kontaktschwierigkeiten gibt es anfangs bei dieser Konstellation, so Barbara Tennstedt, Mitglied des Stiftungsrates von „Umverteilen!“ und Reisebegleiterin, nicht nur zwischen Türken und Ostberlinern, sondern auch zwischen West und Ost. Meistens haben diese sich jedoch schon im Laufe der Reisevorbereitungen in Berlin gegeben, stellte sie fest. Die „Neugier auf das Fremde“ habe bald über das Gefühl der Ablehnung gesiegt. Immer mehr Ostberliner Schulklassen nehmen in den letzten zwei Jahren das Angebot von „Türkei er-fahren“ wahr.

Für die türkischen SchülerInnen aus Berlin ist der Dorfbesuch die harte Konfrontation mit ihrer Lebenssituation, weiß Barbara Tennstedt aus ihrer Reiseerfahrung. Einerseits kann es, vor allem für türkische Mädchen, eine Aufwertung ihres Selbstbewußtseins bedeuten, wenn sie als Vermittlerinnen zwischen den Kulturen und Übersetzerinnen fungieren. Doch der gegenteilige Effekt überwiegt meistens.

Die dörfliche Struktur – meist auch der Ursprung der Eltern oder Großeltern, die als Gastarbeiter nach Deutschland kamen – ist den Kindern vertraut und gleichzeitig fremd. Sie spüren, daß hier nicht mehr ihre Wurzeln sind, und andererseits fühlen sie sich in ihrem Geburtsland Deutschland immer noch als Ausländer. „Ich habe meine Füße auf zwei Planeten/ Wenn sie sich in Bewegung setzen, zerren sie mich mit/ Ich falle/ Ich trage zwei Welten in mir, aber keine ist ganz/ Sie bluten ständig“, beschreibt ein junger Türke in einem Gedicht diese Situation.

Nach dem Dorfbesuch fahren die SchülerInnen zur Erholung ans Meer. Der Aufenthalt wird von den LehrerInnen und BegleiterInnen genutzt, um mit den Kindern die vielen Eindrücke zu verarbeiten. Bei der Reiseplanung versucht die Stiftung Umverteilen zu vermeiden, die Touristenorte auszuwählen.

Das Projekt „Türkei er-fahren“ soll nun auch im nächsten Jahr weitergeführt werden – trotz eines Boykottaufrufes einiger kurdischer Gruppen. Diese kritisieren, daß die türkische Regierung mit den Einnahmen aus dem Touristikbereich ihren Kampf gegen die kurdische Bevölkerung finanziere. Die Mitglieder von „Umverteilen!“ sind sich jedoch einig, daß dieses Problem nicht über die Begegnungen zwischen Deutschen und Türken gestellt werden soll. Die Unterstützung des Boykottaufrufes würde, so ihr Argument, türkische Jugendliche möglicherweise noch mehr isolieren, als es jetzt schon der Fall ist. Elke Eckert

Die Ausstellung „Türkei er-fahren“ ist noch bis zum 4. November im Rathaus Kreuzberg zu sehen. Heute findet im Familiengarten, Oranienstraße 34, eine Informationsveranstaltung zu den Türkei- Reisen statt. Bis zum 15. November können noch die Anträge für 1995 von den Schulen bei Stiftung Umverteilen, Mehringdamm 50, 10961 Berlin, eingereicht werden.

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