: Rotkäppchen im Medien-Zeitalter
■ Verein Märchenforum macht sich im medialen Zeitalter auf die Spuren der Brüder Grimm
Im Zeitalter der elektronischen Medien mutet die Gründung eines eigenen Vereins von Märchenerzählern auf den ersten Blick gewagt an. Das Märchenforum Hamburg e.V., das mit der Herauslösung aus einer übergreifenden Kulturinitiative im vergangenen Frühjahr eben diesen Schritt getan hat, liegt damit jedoch voll im Trend: Nicht nur in Deutschland, auch in anderen europäischen Ländern hat das mündliche Erzählen von Märchen, Mythen und Sagen seit einigen Jahren wieder Konjunktur. Die 15 „professionellen“ Märchenerzählerinnen und Märchenerzähler werden immer häufiger für private Feste engagiert, aber auch in Kindergärten, Krankenhäuser, Altenheime und Schulen eingeladen.
Unter dem Titel „Gegenströmung - Märchenerzähler in der Großstadt“ hatte sich die Hamburger Gruppe im September auf dem Kongreß der Europäischen Märchengesellschaft im westfälischen Rheine präsentiert. Damit trugen die Medienstädter auch der Konkurrenzsituation mit den Massenmedien Rechnung. Nicht nur der regionale Bezug Hamburgs zum Thema Wasser sollte damit angesprochen werden, sagt die Mitbegründerin des Hamburger Märchenforums, Micaela Sauber, sondern hier liege „auch die besondere Chance des Erzählers, gegen die Berieselung mit Kultur durch Maschinen die lebendige Stimme und Gestik zu setzen“. Erst das mündliche Erzählen könne die Bilder und Botschaften des Märchens bei den Zuhörenden wachrufen. Denn trotz des hohen Alters der Märchen, davon ist Sauber überzeugt, haben sie auch heutigen Menschen noch etwas zu sagen, bieten sie Antworten auf zutiefst menschliche Probleme.
Solcherlei tiefere Wahrheiten erschließen sich allerdings nicht immer auf den ersten Blick: Nicht umsonst haben sich im Laufe des vergangenen Jahrhunderts die verschiedenen Koryphäen der Märchendeutung die Klinke in die Hand gegeben. Daß Kinder Märchen samt all ihrer Grausamkeiten brauchen, stellte nicht nur der Psychologe Bruno Bettelheim fest. Da gab es die ethnologische Deutung als naturreligiöse Zeugnisse sogenannter primitiver Völker, die Freud'sche Wahrnehmung als sexuelle Wunschträume, und die marxistische Entdeckung des revolutionären Potentials – auf die satirische Spitze getrieben noch von dem Frankfurter Politologen Iring Fetscher.
Kein Wunder also, daß das Veranstaltungsprogramm des Märchenforums, das sowohl reine Erzählabende als auch thematische Lesungen mit anschließenden Diskussionen umfaßt, vor allem Erwachsene anspricht. Nicht nur die Damen interessiert auch ein Thema wie „Die Frau im Märchen“.
Die Erzählstunden von Gabriele Rau, die regelmäßig die Altenstation einer psychiatrischen Klinik in Hamburg besucht, sind inzwischen zum festen Pfeiler der Therapie von altersverwirrten Patienten geworden, da sie beruhigenden Einfluß auf die alten Menschen ausüben. Selbst im kriegszerstörten Kroatien erfreut sich das Märchenerzählen großer Beliebtheit: Micaela Sauber hat in Dubrovnik mit Unterstützung von Unicef eine Märchen- und Puppenspielinitiative ins Leben gerufen, die in den Flüchtlingslagern Kinder und Erwachsene unterhält. Ihren Schwerpunkt und den ihrer Hamburger Kollegen sieht Sauber allerdings nicht in Forschungs- oder therapeutischer Arbeit, sondern in der Unterhaltung – auch in der Großstadt.
Karin Jähnicke
Info unter Tel.: 4104713
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