Goethe um den Finger gewickelt

■ Wie der Finger einer Mumie aus dem Bremer Bleikeller nach Weimar kam / Ein Fall von Dichter-Verehrung, ruppigem Umgang mit Verstorbenen und grabschändenden Souvenirjägern

In Bremen fehlt ein Finger. Eigentlich sogar eine ganze Hand. Der Finger und die Hand liegen in Weimar – ordentlich sortiert und mit der Inventar-Nummer GN 371 A/B versehen, als „Varia-Objekte“ magaziniert im Naturwissenschaftlichen Kabinett des Goethe-Nationalmuseums. Die Körperteile sind alt und vertrocknet und sie erzählen eine skurrile Geschichte: Wie sich Anfang des 19. Jahrhunderts der Herr Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe von seinem Bremer Bewunderer Nicolaus Meyer mit Geschenken für seine naturwissenschaftliche Sammlung eindecken ließ. Der allerdings schreckte in seiner grenzenlosen Bewunderung für den Dichterfürsten auch vor Grabschändung nicht zurück: Finger und Hand gehören nämlich zu Mumien aus dem Bremer Bleikeller.

Aufgedeckt hat diesen Frevel ein anerkannter Fachmann für die bizarren Seite der Bremer Geschichte, der Hobbyhistoriker und Sprecher des katholischen Gemeindeverbandes Wilhelm Tacke. Bei einem Besuch im Weimarer Goethehaus in diesem Sommer fragte Tacke, Autor des Buches „Bleikeller im Dom zu Bremen“, nach dem Verbleib des hanseatischen Fingers. Und siehe da: Das corpus delicti fand sich gut behütet unter den 23.000 Gegenständen der Goetheschen Naturaliensammlung und als „Finger von einer Mumie, aus dem Bleikeller in Bremen“ im Katalog aufgeführt. Ein indirekter Fingerzeig auf Meyers Tat findet sich in seinem Briefwechsel mit dem Haus Goethe. Der Fall ist klar: Der Bremer Arzt und Goethe-Groupie Meyer hat versucht, sein Idol mit diesem Geschenk nach Bremen zu locken.

Die nekrophile Gabe kam nicht von ungefähr: Die Mumien im Bremer Bleikeller haben seit 300 Jahren die BesucherInnen fasziniert. Acht Tote ruhen hier vertrocknet und unverwest in offenen Särgen. Warum sie nicht wie ordentliche Leichen zu Staub zerfielen, war lange ungewiß. Als Ursache galt lange das Blei, das im Keller gelagert war und ihm seinen Namen gab oder auch eine Besonderheit des Bodens. Heute ist sich die Wissenschaft einig, daß die extrem trockene Luft im Keller des St.Petri-Doms und ein beständiger Windzug die Leichen konserviert haben. Um die mumifizierende Wirkung der Domluft zu überprüfen, wurden Anfang des 20. Jahrhunderts sogar Tierkadaver in den Gewölben untergebracht. Heute sind ihre eingeschrumpelten Körper am eingang des Bleikellers von den TouristInnen zu bestaunen.

Besichtigt wurden die Mumien seit ihrer Entdeckung im Jahre 1695, zuerst noch auf Anfrage und gegen Trinkgeld beim Küster. Inzwischen verdient die St.Petri-Gemeinde pro Kopf der jährlich zigtausenden BesucherInnen zwei Mark Eintrittsgeld, das sie in die Gemeindearbeit und in die Restaurierung des Domes investiert. Warum die Toten, unter ihnen ein „englisches Fräulein“, ein schwedischer General, aber auch Normalsterbliche, nicht gehörig bestattet wurden, ist nicht geklärt. Immer wieder, auch heute noch, wie Dombauherr (Kirchenvorstand) Carsten Bahnson bestätigt, hat es unter den ChristInnen Bremens Streit um die Ausstellung der Mumien gegeben. „Eigentlich sollten Tote eben ordentlich begraben oder verbrannt und nicht zur Schau gestellt werden“, sagt der Bauherr. „Aber die Mumien im Bleikeller gehören eben inzwischen zur Bremer Tradition.“

Diese Bremer Tradition sah in den vergangenen Jahrhunderten allerdings einen nicht gerade pietätvollen Umgang mit den Körpern der Verstorbenen vor, wie viele zeitgenössische Berichte vermelden: Während der Führungen durch den Leichenkeller wurde die Kuriositäten reichlich ruppig behandelt: Die Neugierigen unterzogen sie Härtetests und prüften ihre inneren Werte: Sie hoben die Mumien aus den Särgen, um sie genau zu betrachten, klopften sie ab, um zu hören, ob sie hohl waren, fummelten in ihren getrockneten Wunden herum, richteten sie auf, drehten sie herum, zogen sie an den Haaren, rüttelten an den Zähnen im Kiefer, wogen sie auf ihr Gewicht, stopften ihnen Papierreste unter Kleider oder Knochen und besorgten sich auch schon mal – knacks – ein Souvenir von den schaurigen Gesellen.

So oder ähnlich muß auch „Goethes Bremer Freund“ (so der Titel der Briefesammlung) Dr. Nicolaus Meyer an sein Geschenk gekommen sein. Wie er es genau anstellte, Goethe zu befingern, ist ungewiß. Als junger Mann hatte der den Weimarer Dichter und Denker kennengelernt, sich dann als Arzt in Bremen niedergelassen und die Verbindung aufrechterhalten. Die kleinen Geschenke, die die Freundschaft erhalten sollten, waren von Meyers Seite durchweg Kuriositäten aus dem Hafen der Hansestadt: Schöne Muscheln und Steine, immer mal wieder ein Kiste guter Wein, aber auch „das Scelett eines Walfisches“, „ein Stück von den Kiemen dieses säugenden Seethieres“ oder ein lebender Affe, der allerdings wegen Transportproblemen nicht nach Weimar gelangte. Der Geheimrat bedankte sich zum Beispiel durch die Übersendung des druckfrischen „Wilhelm Tell“ nach Bremen, den Meyer auf die Bühne brachte und damit in den Kulturzirkeln seiner Stadt einen Erfolg feierte. Seine eigenen literarischen Ambitionen mußte er wesentlich tiefer hängen: Er schrieb ein Theaterstück „Die lustigen Musikanten“, doch „selbst Goethes milde Kritik konnte in der Posse keine Geistesblitze entdecken“, schrieb der Herausgeber des Briefwechsels.

Das unerreichte Ziel des Dr. Nicolaus Meyer war es aber, den angebeteten Dichter nach Bremen oder ins „Kurbad Lilienthal“ zu holen, wo er als Badearzt beschäftigt war. Die „Annehmlichkeiten unseres Bades“ sollten Goethe ebenso in den regnerischen Nordwesten locken wie die Museen, Gemäldegalerien und eben die Mumien im Bleikeller. Auch Goethes Sohn August drängte Meyer, den Vater doch zu einem Besuch in Bremen zu überreden. Der allerdings zog den italienischem Himmel dem Bremer Schmuddelwetter vor.

Berufsbedingt mußte sich der verseschmiedende Geheimrat des öfteren mit Tod und Vergänglichkeit auseinandersetzen. So schrieb er in seinem Gedicht „Vermächtnis“:

Kein Wesen kann zu nichts zerfallen!

Das Ewge regt sich fort in allen,

Am Sein erhalte dich beglückt!

Das Sein ist ewig: denn Gesetze

Bewahren die lebendgen Schätze

Aus welchen sich das All geschmückt.

Die Schätze, mit denen sich Bremen schmückte und die unbegreiflicherweise keineswegs „zu nichts zerfallen“ waren, interessierten den Dichter und Naturwissenschaftler allerdings ebenso wie die Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit der Seele.

Zum Weihnachtsfest 1803 wollte dann Nicolaus Meyer die Goethes offensichtlich mit einem ganz besonderen Geschenk um den Finger wickeln. Jedenfalls findet sich in einem Brief von Goethes Sohn August vom 3.Januar 1804 die artige Danksagung an den Bremer Freund: „Ich danke Ihnen vielmals für die schönen Naturalien, welche Sie mir vor einiger Zeit geschickt haben. Sie haben mir hierdurch eine große Freude gemacht und mein kleines Naturalienkabinett sehr vermehrt. Der Finger aus dem Bleikeller ist etwas sehr merkwürdiges für mich, weil man sich nun auch leicht einen Begriff von den ganzen Mumien machen kann.“

Die Mumien zu begreifen war ja in der Tat über mehrere hundert Jahre so etwas wie ein Volkssport im Bremer Bleikeller. Nach den ersten Reisenden, die aus naturkundlichem Forschergeist und anatomischem Interesse kamen, strömten dann die Touristen in den Keller, um Hand an die Verstorbenen zu legen. Heute schützen nach dem bereits zweiten Umzug der Mumien in ein Außengewölbe Glasplatten die offenen Holzsärge. Auch die Postkarten aus dem Bleikeller sind verschwunden, auf denen sich halbaufgerichtete Mumien wie Zombies aus den Särgen lehnten und manchen ahnungslosen Postkunden schwer geschockt haben. Bis 1960 allerdings waren die Leichen frei zugänglich und für Souvenirjäger verlockend. 1945 bediente sich ein amerikanischer Offizier an der greifbaren Geschichte, wie Tacke in seinem Buch einen Zeugen erzählen läßt: „Bei einer Führung geht irgendwann der Offizier in Uniform an eine der Mumien, packt sie beim Daumen und ich höre noch heute das knirschende Geräusch, mit dem er den Daumen einfach abbricht. Er machte das ganz offen, und der Küster muß das auch bemerkt haben. Der Offizier grinst über beide Wangen, meint trocken: „Souvenir“ und steckt den Daumen ohne rot zu werden in seine Uniformtasche. Natürlich wagte damals niemand, einen amerikanischen Offizier zur Rede zu stellen.“ Jahre später kam dann ein anonymes Paket an die Domgemeinde aus Amerika. Der Inhalt: Der Mumiendaumen, der auch gleich wieder an seinen jahrhundertealten Platz zurückgeleimt wurde und damit offensichtlich das schlechte Gewissen des Leichenschänders beruhigte.

Den Verlust ihrer Inventarstücke GN 371 A/B müssen die Nachlaßverwalter von Weimar allerdings nicht befürchten. Der Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ soll für den Bremer Mumienfinger nicht gelten, meint Bauherr Bahnson: „Da werden wir keine Ansprüche geltend machen.“ Der Finger gehöre inzwischen ja auch mehr nach Weimar als nach Bremen. Für Marie-Luise Kahler, Kustodie der „Stiftung Weimarer Klassik“ ist es ein „nicht so angenehmer Gedanke“, wenn es die Leichen noch gäbe, von denen die Teile sind: „Über die Herkunft der Hand haben wir außer den Kataloghinweisen bisher keine Quellennachweise“, schrieb sie nach Bremen.

Den Mumien, denen eine normale Leichenruhe nicht gewährt wird, gönnte die Domgemeinde auch die Ruhe einer einzigen Grabstätte nicht. Inzwischen sind die Touristenattraktionen innerhalb des Domgeländes bereits zweimal umgezogen. Ihre angeblich letzte Ruhestätte ist nunmehr von den Neugierigen zu erreichen, ohne daß diese einen Schlenker durch das Gotteshaus machen müßten. „Der Zustrom der Pommes-Frites-kauenden Besucher stieß ein wenig unangenehm auf“, hieß es als Grund für den erneuten Umzug, der 1989 im Zuge der umfassenden Domsanierung stattfand.

Wohin also gehört der Weimarer Finger? Ein Lokaltermin im Bleikeller ergibt: Einer Mumie fehlen durchaus ein paar Finger, aber eine ganze Hand wird nirgends vermißt. Ihr Schicksal bleibt weiterhin im Dunkeln. Wilhelm Tacke hat aber auch dafür eine Erklärung. Beruhigend schreibt er den Weimarer Nachlaßhütern, der Rest des Körpers, von dem die Hand stammen könne, ruhe wahrscheinlich schon längst in Frieden: „Ob die Hand auch aus Bremen kommt, weiß ich nicht. Hier fehlt keine. Aber 1823 wurden einige der Mumien „ausrangiert“, weil sie vom unachtsamen Umgang „ausgeleiert“ waren.“

Bernhard Pötter

Material zum Weiterschmökern:

„Bleikeller im Dom zu Bremen – oder der Dachdecker, der kein Dachdecker war.“ Wilhelm Tacke, Döll Verlag

„Goethes Bremer Freund Dr. Nicolaus Meyer“, Briefwechsel mit Goethe und dem Weimarer Kreise, herausgegeben von Hans Kasten, Schünemann-Verlag

„Abschied und Übergang“ Goethes Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, erläutert von Werner Keller, Artemis Verlag