: Wäre ich Aristide...
Zwischen US-Soldaten und Armendoktoren: Haitis Slums nach der Rückkehr Präsident Aristides ■ Aus Port-au-Prince Andrea Böhm
Irgend etwas scheint ihn ständig zur Eile zu mahnen. Fast im Laufschritt bewegt sich Jean-Hector Anacasis durch die Slums von Solino, als befürchte er, irgend etwas auf seiner Besichtigungstour zu vergessen und damit die Schockwirkung auf die Journalisten zu vermindern. Mit seiner Größe von fast 1,90 Meter ist er in jeder Menschenmenge unübersehbar – und hier, in Solino, kennt ihn inzwischen jeder. „Hier“, ruft er plötzlich und winkt einen Mann zu sich heran, dessen Kopf mehrere markstückgroße Narben aufweist. „Das ist diese neue Plage, die bislang keiner diagnostizieren kann.“ Immer häufiger klagen Menschen in den Slums von Port-au-Prince über Kopfschmerzen und eitrige Wunden auf der Kopfhaut. Symptome, gegen die keiner ein Mittel weiß. „Und hier ist die einzige Latrine für alle“, sagt Anacasis und reißt die Tür eines kleinen Bretterverschlages auf. Ein kleines Mädchen blickt erschrocken hoch. Zwei Ecken weiter findet er einen apathischen, unterernährten Vierzehnjährigen mit tränenden Augen, der sich erschöpft in einem Hauseingang niedergelassen hat. „Chronische Bindehautentzündung“, konstatiert Anacasis lakonisch. „Das gehört noch zu den geringsten Problemen, die wir hier haben.“
Jean-Hector Anacasis, 39 Jahre alt und gelernter Volkswirtschaftler, hat selten Journalisten zu Besuch. Wenn sie schon einmal kommen, dann will er ihnen auch alles zeigen. Die Latrinen, die Kopfwunden, den Müll – und den Weg zu Jean, dem Schuster.
Rechts ab von der Hauptstraße. Über den Abwasserkanal, in dem ein paar Schweine nach Eßbarem wühlen. Links hoch in das Labyrinth von Gassen, durch die man sich manchmal seitwärts hindurchwinden muß. Ab der nächsten Ecke wird es schwierig: Müll, Regenwasser und Exkremente haben den Weg mit einer stinkenden, glitschigen Brühe überzogen.
Ein paar Häuser weiter sitzt Jean in seinem Laden, einem schwarzen Loch von vier Quadratmetern. Der Eingang ist mit schlecht kopierten Aristide-Porträts dekoriert. Aus einem Transistorradio tönt Musik, während der Schuster mit einem Hammer gewissenhaft den Absatz eines völlig verrotteten Herrenschuhs festklopft. Es ist der einzige Auftrag, den er seit Wochen hereinbekommen hat. Auf absehbare Zeit wird es auch der einzige bleiben. Das Embargo hat die Leute von Solino nicht nur um ihre letzten Gourdes, sondern auch um ihre Schuhe gebracht. Wer überhaupt welche besaß, hat sie verkauft.
Seit 1991 arbeitet Jean-Hector Anacasis in Solino als Direktor von Solidarité pou la vi miyo – zu deutsch: Solidarität für ein besseres Leben (SOLAM). In diesen zwei Jahren hat Anacasis zusammen mit einem Arzt, einer Krankenschwester und mehreren Freiwilligen eine kleine Ambulanz aufgebaut, in der sich die Einwohner gegen eine Grundgebühr von fünf Gourdes behandeln lassen können. Ein kleiner kahler Raum nebenan beherbergt eine Apotheke. Drei Holzbretter sind dank der Spenden einer belgischen Hilfsorganisation mit Kopfschmerztabletten, Verbandstoff und Anti-Grippemitteln gefüllt. Viel dringender bräuchte SOLAM jedoch Medikamente gegen Malaria, Typhus, chronischen Durchfall und Vaginalinfektionen – und für Aids-Patienten. Das sind die Krankheiten, mit denen die Leute jeden Montag und Donnerstag die Sprechstunde aufsuchen – wenn sie noch laufen können.
Ein paarmal war Anacasis in diesen zwei Jahren kurz davor, die Ambulanz wieder dicht zu machen, weil sich wegen des Embargos kaum Gelder und Medikamente auftreiben ließen. Nur die Weltgesundheitsorganisation leistete Finanzhilfe.
Was das Embargo nicht schaffte, hätten fast die Terrortrupps der rechtsradikalen FRAPH besorgt, die mehrfach auftauchten, um das kleine einstöckige Haus mit Handgranaten in die Luft zu sprengen. Mitten in der Nacht stand Jean- Hector Anacasis dann Wache und redete auf die Angreifer ein. „Hört auf, laßt uns in Ruhe. Wir helfen nur den Kranken. Davon profitiert ihr doch auch.“ Was sie auch taten. Mehr als einmal kamen FRAPH- Mitglieder zur Behandlung in die SOLAM-Ambulanz.
Die letzte Terroraktion in Solino fand drei Tage vor der Rückkehr Jean-Bertrand Aristides statt: FRAPH-Mitglieder zogen durch die Gassen der Slums, schossen in Häuser, traten Türen ein und verprügelten Bewohner. Von US- Truppen war nichts zu sehen. Doch in Erwartung „ihres“ Aristide hatten die Bewohner genügend Mut gefaßt, um sich in dieser Nacht zu wehren. Drei FRAPH-Männer wurden getötet, der Rest in die Flucht geschlagen, das Büro der FRAPH auf einem der Hügel von Solino mit Brettern vernagelt. Am nächsten Morgen trieb jemand einen Eimer Farbe auf und verkündete mit großen Lettern auf der Hauswand: „Dieses Haus ist geschlossen. Lang lebe Aristide.“
So etwas wäre vor wenigen Wochen ebenso unvorstellbar gewesen wie der junge SOLAM-Mitarbeiter, der mit einem Megaphon voraneilt und die Bewohner zu Hygiene und Müllbeseitigung aufruft. „Während der Militärherrschaft“, sagt Anacasis, „war es unmöglich, die Leute zu irgendeiner Aktivität zu bewegen. Sie hatten Angst.“ All die Putz- und Aufräumarbeiten in den Elendsquartieren waren nicht nur ein Willkommensgruß für den heimkehrenden Präsidenten, sondern auch ein Akt der Befreiung – die Müllabfuhr als politische Demonstration.
Als ob „eine Million Menschen zur gleichen Zeit wieder zu reden beginnen“ – so beschrieb die US- Journalistin Amy Wilentz die Stimmung in Haiti nach dem Sturz von Jean-Claude Duvalier 1986. Auch jetzt, nach dem Ende des dreijährigen Terrors durch Militärs, Polizei und Todesschwadronen, liegt in den Armenvierteln von Port-au-Prince ein ständiges Surren und Summen in der Luft. Man lauscht Radiostationen, die wieder senden dürfen; man diskutiert vor Jeans Schusterladen über Kleinkredite, die die Handwerker so dringend bräuchten; man schimpft auf die „bric-a-brac“- Händler, die Pfandleiher, deren Geschäfte vollgestopft sind mit Transistorradios, alten Fernsehern und vor allem Kochgeschirr – Wertsachen, die die Leute in der Not des Embargos vesetzen mußten; man hofft auf Arbeitsplätze und Löhne, die mehr einbringen als das durchschnittliche Jahreseinkommen von 250 Dollar; und man politisiert in bester marxistischer Terminologie in den „Restaurants“ von Solino, wo auf verkohlten, ausgefransten Holzplatten aus riesigen schwarzen Töpfen Reis und Bohnen serviert werden. „Die Bourgeoisie“, prophezeit der 18jährige Fontus düster, „die Bourgeoisie wird Aristide in die Zange nehmen.“ Andere sind optimistischer. Schließlich gibt es doch „Lavalas“, jene Volksbewegung, die Aristide 1990 an die Macht brachte. Die Gewerkschaften haben in Sichtweite des Präsidentenpalastes schon erste Versammlungen abgehalten. An der Universität, so heißt es im Radio, haben Pro-Aristide- Studenten Anhänger des Militärregimes vertrieben – und in Hinche, einer Hochburg der Bauernbewegung in der Zentralregion des Landes, feierte vor wenigen Tagen Chavannes Jean-Baptiste, der Führer des Peasant Movement of Papay (MPP), vor über 10.000 Menschen eine triumphale Rückkehr aus dem US-Exil.
Diese Art von politischer Partizipation löst in der US-Botschaft am Harry-Truman-Boulevard in Port-au-Prince eher Befremden aus. Dort hat Colonel Jeff Jones, im Rahmen von „Operation Uphold Democracy“ zuständig für psychological operations (PSYOP), die Instrumente seiner Arbeit ausgestellt: Fußbälle, T-Shirts mit dem Sternenbanner, Aufkleber mit den Nationalfahnen Haitis und der USA, Transistorradios sowie zahlreiche Plakate, auf denen in kreolisch die Vorzüge der Demokratie gepriesen werden. Der parlamentarischen Demokratie, wohlgemerkt. Denn Straßendemonstrationen und Volksbewegungen sind den US-Amerikanern ebenso unheimlich wie die scheinbar magische Anziehungskraft, die Jean-Bertrand Aristide auf die arme Mehrheit des Landes ausübt.
Colonel Jones und seine PSYOP-Einheiten betreiben ihre Aufgabe mit einer Mischung aus missionarischem Paternalismus und Sportsgeist. „Die Haitianer sind ein Volk ohne jede demokratische Tradition“ – dieser Satz, von US-Offiziellen immer wieder heruntergebetet, ist ebenso richtig wie falsch. Falsch, weil er eben jene Volksbewegung unterschlägt, die vor fast vier Jahren den ersten demokratischen Wahlsieg in der Geschichte Haitis ermöglicht hat. Den Colonel fechten solche historischen Details nicht weiter an. Er möchte nicht nur der Coach sein, sondern auch die Laufrichtung angeben. „Psychologische Operationen“, doziert er, „dienen dazu, mit ausgesuchten Informationen die Gefühle, Motive und Entscheidungen und das Verhalten fremder Regierungen, Organisationen und Individuen zu beeinflussen.“
Im Moment allerdings gibt es nicht viel zu beeinflussen. Die haitianische Bevölkerung empfängt US-Soldaten, wo immer sie auftauchen, mit offenen Armen – und jeder Menge Arbeit. Sanitäter versorgen kranke Kinder, GIs schaufeln zusammen mit den Bewohnern Müll und Kloake beiseite und streichen Schulgebäude an. Auf dem Land haben US-Soldaten die Gefängnisse geöffnet und die halbtoten Insassen wieder hochgepäppelt. Jetzt laufen sie Streife, bis in ungewisser Zukunft die „neue“ haitianische Polizei ihre Arbeit antritt – eine Aussicht, die die Haitianer selbst mit Furcht erfüllt. „Hoffentlich bleiben die Weißen für immer“ – solche Sätze sind in den Dörfern oft zu hören.
Nicht einmal der von Washington so skeptisch beäugte Priester im Präsidentenpalast scheint PSYOP-Lektionen nötig zu haben. Um überhaupt Geld in das völlig bankrotte Land zu holen, hat sich Aristide einem Wirtschaftsprogramm verschrieben, das für Weltbank und Internationalen Währungsfonds nichts zu wünschen übrig läßt.
Ein Großteil der Auslandshilfe wird zur Begleichung von Staatsschulden aufgebracht, staatliche Unternehmen wie die Strom- und Telefongesellschaft sollen privatisiert und dann besteuert werden, um so Gelder in die Staatskassen zu bringen. In Teilen der Lavalas- Bewegung regt sich erster Unmut – die Saat für eine linke Opposition gegen „Titid“.
„Wenn ich Aristide wäre“, sagt Jean-Hector Anacasis, „dann würde ich sofort das Problem der Gesundheitsversorgung angehen und eine Alphabetisierungskampagne starten.“ Vielleicht weiß er insgeheim, daß er an Aristides Stelle nicht viel anders handeln könnte – umgeben von US-Regierungsbeamten und eingeschlossen in einem Palast, in dem ihn die GIs in einer Art Schutzhaft halten. Anacasis springt mit einem gewaltigen Satz über einen Kloakenkanal, in dem ein riesiges Schwein Mittagsschlaf hält. Auf der anderen Seite ragt ein weißes Plastikrohr aus dem Boden – der selbstorganisierte Versuch von Anwohnern, eine Wasserleitung zu legen. Zwei Frauen kommen auf ihn zu und klagen, daß immer noch zuviele Waffen in den Häusern von FRAPH-Mitgliedern zirkulieren. Vor der Ambulanz wartet eine junge Frau mit einem schreienden Säugling, der hohes Fieber hat. Heute ist kein Arzt da. Renée, die Krankenschwester, wird sich um das Baby kümmern.
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