: Anamnese der Auslassungen
■ Das Architekturjahrbuch 1994 wurde auf der Suche nach großartiger Architektur nicht fündig
Es gibt aktuell keine hervorragende Architektur in Hamburg, auch wenn es ein paar Hamburger Architekturbüros gibt, die außerhalb Hamburgs Erklärungen dazu bauen können, wie es auch anders geht. Diesen Eindruck vermittelt zumindest das mittlerweile sechste Architektur-Jahrbuch, das alljährlich, herausgegeben von der Hamburgischen Architektenkammer, verschiedene Perspektiven auf den Stand der architektonischen Befindlichkeit in Hamburg wirft.
Natürlich stellt dieses Urteil keine explizite Aussage der Herausgeber dar – schließlich ist die Hamburger Architekten-Szene zu überschaubar für harte Worte und das Buch eine Veröffentlichung ihres Zentralorgans –, aber sowohl in der Auswahl der Beiträge wie in dem sehr zurückhaltenden Ton eigentlich aller Autoren wird überdeutlich, daß sich an Hamburgs Grundmakel nichts geändert hat: Man muß mit hohem Mittelmaß schon hochzufrieden sein. Trotzdem die Qualität der Beiträge zwischen repräsentativer Befangenheit und ehrlicher Kritik schwankt, bleibt zumindest dieser Tenor ehrlich. Dabei wird die Anamnese auf verschiedenen Feldern mehr indirekt geführt.
Gelobt werden nämlich überwiegend kleinere unspektakuläre Bauaufgaben von jüngeren Architekturbüros und Projekte Hamburger Architekten in anderen Städten. Zu ersterem gehört der zweifelsohne höchst gelungene Umbau des Katharinenhofs am Zippelhaus durch die Architekten Gössler, die stilvolle Erweiterung von Strom- und Hafenbau durch das Büro Dinse, Feest, Zurl und das konstruktivistisch verspielte und gleichzeitig appetitliche Wohnhaus von Robert Vogel am Alsterufer (Ingrid Spengler/Manfred Wiescholek). Zweiteres umfaßt das allseits vielbeachtete Kunstmuseum Wolfsburg (Schweger und Partner), den auffällig aber unprotzig komponierten, leicht und elegant gearbeiteten Komplex der Stadtwerke Witten (Jörg Friedrich) und den Erweiterungsbau des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg (me-di-um). Für Hamburgs angebliche Vorzeigebauten des letzten Jahres finden die Rezensenten dann braves Lob (in der Titelgeschichte über den neuen Flughafen-Terminal von GMP) oder meiden ein abschließendes Urteil (wie beim Neuen Dovenhof von Kleffel, Köhnholt, Gundermann).
Das Schwergewicht dieses Jahrbuches liegt aber – und das macht es überhaupt nur zu einer wichtigen Publikation – in analysierenden und baugeschichtlichen Artikeln. Da steht eine kluge Untersuchung über die Stadtentwicklungspolitik im Hamburger Osten neben einer Würdigung von Bernhard Hermkes Großmarkthallen und eine kritisch-ironische Untersuchung des Fleet-achsen-Konzeptes neben einer denkmalpflegerischen Betrachtung der Flughafen-Konzepte. Ein architektonischer Vergleich mit Hamburgs Partnerstadt Prag und ein Porträt des für Hamburg so bedeutenden Ingenieurs William Lindley, der nach dem Großen Brand von 1842 Kanalisation, Eisenbahnbau und Wasserversorgung schuf, runden den überaus informativen Leseteil ab.
Was dem diesmal Magenta-farbenen Band wie immer fehlt, ist ein Blick über den Tellerrand. Internationale Architekturdebatten, -konzepte und -projekte als Vergleiche zur örtlichen Heimeligkeit zur Diskussion zu stellen, wäre eine höchst verdienstvolle Aufgabe. Denn wie sollen sich auch nur feine Haarrisse anderer Qualitäten in der Hamburger Gediegenheit zeigen, wenn nicht einmal das hiesige Jahrbuch die zeitgenössische Weltarchitektur zur Kenntnis nimmt? Oder fürchtet man einfach das bittere Resultat dieses Vergleichs?
Till Briegleb
Architektur in Hamburg 1994, Junius Verlag, 180 S., 68 Mark
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