: "Fahren wir lieber oben rum?"
■ Die Jahrhundertsanierung bei der S-Bahn geht vor allem für die Fahrgäste nicht so vonstatten, wie es die Bahn versprochen hat / Auf dem Bahnhof regiert - das Chaos
Die Fahrgäste der S-Bahn zwischen Bahnhof Zoo und Alexanderplatz sind sauer. „Ich kann's nicht fassen!“ sagt eine ältere Frau naserümpfend zu ihrer Arbeitskollegin. Sie zeichnet auf dem Fahrplan mit dem Zeigefinger den Winkel nach, den die U-Bahn-Linien 9 und 6 zwischen Zoo und Friedrichstraße bilden: „Vielleicht sollten wir wirklich oben langfahren.“
Seit gestern ist das kollektive Inhalieren der PVC-Emissionen durchgefurzter Sitzplatzfüllungen zu einer zeitraubenden Angelegenheit geworden. Der Grund: Eine Jahrhundertsanierung, die den öffentlichen Nahverkehr in diesem Bereich voraussichtlich bis 1996 weitgehend lahmlegen wird. „Die Stadtbahnsanierung ist Teil der vielen Bauvorhaben, die Berlin wieder zur Drehscheibe des europäischen Durchgangsverkehrs machen werden“, wirbt die Bahn vollmundig in ihren Broschüren.
Die Deutsche Bahn saniert die 8,8 Kilometer lange, zweigleisige S-Bahn-Strecke und die parallel dazu verlaufende Fernbahn vollständig. Dabei werden sämtliche Gleis- und Signalanlagen und 530 Viaduktbögen erneuert, 44 Brücken werden instandgesetzt, 10 Brücken neu gebaut. „Wenn wir jetzt nicht bauen, baut morgen der Verkehr ab“, lautet das Motto, mit dem die Bahn ihre Kunden für den Ausfall der S-Bahnhöfe Tiergarten und Bellevue seit Sonnabend hinwegzutrösten versucht.
Ein Versuch, der bei den Fahrgästen auf wenig Gegenliebe stößt. Alle zehn Minuten kommt ein S-Bahn-Zug von der Friedrichstraße am Lehrter Stadtbahnhof an und spuckt eine Herde mißmutiger Passagiere aus, die sich murrend zu den bereits wartenden Fahrgästen auf dem Nachbargleis gesellen und abwarten müssen, bis der Zug Richtung Bahnhof Zoo eintrudelt. Was an Werktagen schon eine zeitraubende Aktion ist, wird an den Wochenenden gar zur dreißigminütigen Reise.
Mit der Sanierung der Berliner Stadtbahn zwischen Zoo und Hauptbahnhof ist gleichzeitig eine Modernisierung der Bahnhöfe durch den Einbau von Fahrtreppen und Aufzügen sowie durch Neugestaltung der Bahnhofsanlagen vorgesehen. Daher geht auf den S-Bahnhöfen Tiergarten und Bellevue auf der Schiene bis Abschluß der Bauarbeiten gar nichts mehr. Bis Januar 1996, so die Planung der Bahn, sollen die beiden Bahnhöfe dicht bleiben. Zwischen Bahnhof Zoo und Lehrter Stadtbahnhof ist deshalb ein Schienenersatzverkehr mit Bussen eingerichtet worden, der diese S-Bahnhöfe verbindet.
Beide Bahnhöfe wurden trotz heftiger Proteste der Anwohner geschlossen, weil es dort an den Fernbahngleisen, über die der S-Bahn-Verkehr abgewickelt wird, keine Bahnsteige gibt. Auf den Bau von Ersatzanlagen wollte sich die Bahn nicht einlassen. Angesichts der wenigen Fahrgäste, die diese Bahnhöfe benutzen, wäre der Aufwand zu groß gewesen, argumentierte die Bahn.
Also müssen die Fahrgäste hundert Meter weiter zu einer improvisierten Bushaltestelle wandern, wo an Werktagen alle fünf Minuten ein Omnibus abfährt. Damit die Fahrgäste die halb im Dickicht einer kaum erkennbaren Seitenstraße verborgene Haltestelle auch finden, ist zwischen zwei verdorrten Baumstämmchen ein gelbes Plastikplakat mit der Aufschrift „Schienenersatzverkehr“ aufgespannt. Zwei schwarze Pfeile mit dem Hinweis „zum Bahnsteig“ weisen unbestimmt in die Richtung 6 aus 49, irgendwo seitlich vom Stadtzentrum ins Ungewisse. Doch zuvor muß das Baumaßnahmenopfer über die schlammige Ausfahrt eines gewerblichen Grundstücks waten. Die BVG hat 15 Busse eingesetzt, die alle fünf Minuten fahren. In den sogenannten Nebenverkehrszeiten, auch sonnabends und sonntags, vergrößert sich der Fahrabstand auf zehn bis zwanzig Minuten. Nachts verkehren die Busse nur alle dreißig Minuten. Somit ist der Schienenersatzverkehr erheblich schlechter als das bisherige S-Bahn-Angebot.
Die Busse sollen am Bahnhof Zoo an der Hardenbergstraße starten. Dann geht es über die Hardenbergstraße, den Ernst-Reuter-Plat, über die Straße des 17. Juni bis zum Lehrter Stadtbahnhof. Die Busse fahren neben den S-Bahhöfen Tiergarten und Bellevue auch noch den U-Bahnhof Hansaplatz an.
Besonders elegant spielt sich jedoch die Anfahrt des S-Bahnhofes Hackescher Markt durch die S-Bahn ab. Man merkt: Hier hat ein ganz findiger Kopf getüftelt. In Anlehnung an Lenins revolutionärer Theorie „Zwei Schritte vorwärts, ein Schritt zurück“ und basierend auf den Regeln von „Mensch, ärgere dich nicht“, muß der Passagier zunächst eine Station weiter bis zum Alexanderplatz fahren, dort in einen Zug in die Gegenrichtung umsteigen und wieder zurückfahren.
Wem das zu umständlich ist, kann den Ratschlag eines Arbeiters befolgen. Der Mann mit dem Ostfriesennerz und dem zerdrückten Hütchen in Desert-Storm- Tarnfarben rät angesichts des Umsteigemanövers: „Rechtzeitich 'naushüppe!“ Peter Lerch
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