2. November 1989
: Es geht voran

■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie

Die Demo, die Theaterleute und Künstler für Sonnabend vorbereiten, wirft ihre Schatten voraus. Es wird die erste genehmigte Protestdemonstration in der Geschichte der DDR sein. Alle sind gespannt, wie viele kommen werden.

Ich bin am Abend mit Freunden damit beschäftigt, das erste Transparent meines Lebens herzustellen. Ich habe einen Bettbezug gespendet und zwei lange Latten aus meinem Bücherregal. Einer hat rote und schwarze Plakatfarbe mitgebracht. Seine Freundin hat einen kleine Nähmaschine dabei. Während wir damit beschäftigt sind, die Farbe aufzurühren, gibt die „Aktuelle Kamera“ die Rücktritte des Tages bekannt. Harry Tisch, Vorsitzender des FDGB, hat endlich nachgegeben und seinen Stuhl geräumt, die SED-Bezirkssekretäre von Suhl und Gera treten zurück, ebenso die Vorsitzenden der NDPD, Homann, und der CDU, Götting. Margot Honecker sei angeblich schon am 20. Oktober zurückgetreten.

Diese Nachrichten versetzen uns in ein Hochgefühl. Bis zum frühen Morgen sind wir dann mit den Malerarbeiten beschäftigt. Neben Stoff, Farbe und Holzlatten verbrauchen wir vier Flaschen Rotwein. Besonders die Abdankung von Frau Honecker muß gefeiert werden. Auf dem Transparent steht schließlich: „Für eine sozialistische deutsche Räterepublik. Bildet Räte!“ Das Transparent ist über zwei Meter lang. Totmüde falle ich hinterher ins Bett. Geschichte wird gemacht, es geht voran. Wolfram Kempe