: Zementierte Spaltung
■ Fünf Jahre nach der Maueröffnung sind die Netze der S-Bahn und Straßenbahn weniger ausgedehnt als vor dem Mauerbau
Fünf Jahre nach der Maueröffnung hat der Westteil Berlins seine verkehrspolitische Insellage an vielen Punkten nicht überwunden. Während die Straßenverbindungen in die frühere Haupstadt der DDR und nach Brandenburg bis auf wenige Ausnahmen wieder geöffnet sind, fährt noch keine einzige Straßenbahn vom ehemaligen Ostteil in den Westen, wo sie 1967 abgeschafft wurde. Auch im S-Bahn-System klaffen erhebliche Lücken, die die Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs zum Abenteuer werden lassen.
Zum Beispiel an der südlichen Stadtgrenze Berlins: Wer von Steglitz nach Teltow fahren will, ist letztendlich auf den Bus angewiesen, der eine knappe Stunde braucht. Die alte S-Bahn-Strecke zwischen der Station Priesterweg (S 2) und Teltow ist noch nicht in Betrieb, obwohl „Bausenator Nagel sie uns für 1993 versprochen hatte“, sagt Steglitz' Wirtschaftsstadtrat Udo Bensel (Bündnis 90/ Die Grünen). Die Autostraßen sind natürlich längst befahrbar.
Ähnlich stellt sich die Situation an der Nordwestecke Berlins dar. Wer aus Wustermark kommend die U-Bahn am Rathaus Spandau erreichen will, kann sich auf eine wahre Odyssee mit dem Bus gefaßt machen. Der Grund auch hier: Die früheren S-Bahn-Linien nach Wustermark und Nauen werden nicht mehr befahren, die Schließung der Lücke ist nicht in Sicht. So sind die Pendler weitgehend auf ihre Wagen verwiesen und die Heerstraße und Falkenseer Chaussee regelmäßig verstopft.
Die Instandsetzung des S-Bahn- Nordrings von Jungfernheide bis Schönhauser Allee sowie der Lückenschluß zwischen Neukölln und Treptow stehen auf der Liste der Absichtserklärungen von Senat und Bahn AG. Obwohl mehrere von der Mauer einstmals unterbrochene Strecken inzwischen wieder in Betrieb sind (Südring, Oranienburg, Potsdam, Blankenfelde), hat das Netz seine ursprüngliche Ausdehnung noch nicht erreicht. 1961 fuhren die rot-gelben Züge auf 335 Kilometern Schiene, gegen Ende des Jahres 1993 verkehrten sie auf 281 Kilometern. Falls das notwendige Geld vorhanden ist, will die Bahn bis 2000 wieder 326 Kilometer unter die Räder nehmen.
Das U-Bahn-System präsentiert sich 33 Jahre nach dem Mauerbau nahezu intakt. Die früheren Geisterbahnhöfe im Bezirk Mitte wurden geöffnet, und neuerdings verbindet die Linie 2 City-West und City-Ost. Nur ein Lückenschluß fehlt: Die Trasse über die Oberbaumbrücke zwischen Kreuzberg und Friedrichshain wird gerade renoviert, kann aber wegen Geldmangels eventuell nicht 1995, wie geplant, sondern erst später in Betrieb gehen.
Straßenmäßig sieht die Fünfjahresbilanz seit 1989 so aus: Offiziell sind 95 von 167 früher unterbrochenen Straßen wieder befahrbar, 35 weitere in Planung oder Realisierung. Auf den Hauptstraßen fließt – oder staut – der Individualverkehr bereits seit geraumer Zeit, nur Nebenstraßen harren noch der Wiedereröffnung.
Das eigentliche dunkle Kapitel der Berliner Verkehrspolitik besteht darin, daß mit U-Bahn und Straßen die teuersten Verkehrsträger gefördert werden, was sich in den nächsten Jahren in Gestalt des neuen U 5-Tunnels zum geplanten Lehrter Zentralbahnhof und des Tiergartentunnels für Kraftfahrzeuge fortsetzen soll. Eine Planung, die sich mittlerweile als ungedeckter Scheck entpuppt. Im Haushaltsplanentwurf für 1995 und 1996 kann der Senat nach Meinung Michael Cramers, Verkehrsspezialist von Bündnis 90/Die Grünen, nicht nachweisen, woher die Baumilliarden kommen sollen. Die im Vergleich zur Tunnelbuddelei viel billigere Straßenbahn hingegen ist bislang auf den Osten beschränkt. Lediglich eine Ost- West-Verbindung (Bornholmer – Osloer Straße) wird zur Zeit ernsthaft gebaut. Alle anderen immer wieder diskutierten Straßenbahnpläne bleiben unrealistische Zukunftsmusik. Cramer: „Der Senat zementiert so die verkehrspolitische Spaltung der Stadt.“ Hannes Koch
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