: Freispruch im Kaindl-Prozeß nach elf Monaten Haft
■ Der Verteidiger von Abidin E. erhebt schwere Vorwürfe gegen Justiz und Polizei / Vernehmung eines Rechtsradikalen im Hauptverfahren geplatzt
Berlin (taz) – Der 33jährige Abidin E. ist gestern vor dem Berliner Landgericht im sogenannten Kaindl-Prozeß um die Tötung des Rechtsradikalen freigesprochen worden. Elf Monate lang saß er unschuldig in Untersuchungshaft. Im Verlauf des Prozesses hatte sich herausgestellt, daß die ihn belastenden Zeugenaussagen offenbar unter Druck des polizeilichen Staatsschutzes zustande gekommen und falsch waren.
Sein Verteidiger Kliesing bestand gestern deshalb auch weiterhin darauf, die Staatsschutzbeamten zu ihren Vernehmungsmethoden zu hören. Kliesing erhob in seinem Plädoyer wegen des Abbruchs der Vernehmung der Staatsschützer harte Vorwürfe gegen das Gericht. Es weigere sich, aufzuklären, wie der polizeiliche Staatsschutz Ermittlungsergebnisse manipuliert und konstruiert habe. Der Staatsanwaltschaft warf der Verteidiger vor, in einem „überdimensionierten Verfahren“ habe sie versucht, ein politisches Fanal zu inszenieren. Im Abidin- Prozeß wird eine Aufklärung dieser Vorwürfe aber nicht mehr möglch sein, da dieses Verfahren abgetrennt worden war.
Am Vormittag hatten Unterstützer der Angeklagten im Hauptverfahren einen Abbruch der Vernehmung des rechtsradikalen Thorsten Thaler erzwungen. Wenn Gerhard Kaindl kein Opfer war, wie die Berliner Antifa in einem Demo-Aufruf zu Beginn des Prozesses um den Tod des rechtsradikalen Politikers formulierte, dürften auch seine politischen Freunde nicht als Zeugen fungieren. Dieser Logik folgend, brachte Thaler, der bei dem Überfall auf das Treffen von Rechtsextremen im April 1992 schwer verletzt worden war, gestern vor dem Berliner Landgericht gerade einmal seinen Namen und seinen Beruf heraus, bis ein beißender Buttersäuregestank den Prozeßtag beendete. Mit lautstarkem „Nazis raus!“ hatten sechzig UnterstützerInnen im Zuschauerraum Thaler begrüßt.
Mit ihrer Buttersäureaktion haben die UnterstützerInnen den U-Haft-Aufenthalt der fünf verbliebenen Angeklagten – die 22jährige Fatma B. und der 33jährige Abidin E. wurden bereits entlassen, weil kein dringender Tatverdacht mehr besteht – jedoch vermutlich nur unnötig verlängert. Nach Aussagen einiger Verteidiger seien in den vergangenen Tagen zwischen Verteidigung, Gericht und Staatsanwaltschaft Absprachen getroffen worden, den Prozeß zu einem „sehr zügigen“ Ende zu führen.
Details über das „ins Auge gefaßte Urteil“ waren nicht zu erfahren – mehrere Verteidiger sprachen allerdings übereinstimmend von einem „sehr zufriedenstellenden“ Ergebnis. Nachdem die Mordanklage verworfen wurde und der Hauptverdächtige für die tödlichen Messerstiche nach wie vor flüchtig ist, müssen die Angeklagten sich lediglich noch wegen gefährlicher Körperverletzung oder Körperverletzung mit Todesfolge verantworten.
Das Verfahren wird am nächsten Freitag fortgesetzt. Jeannette Goddar
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