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Stahlbosse haben beim Pokern verloren

■ Warum der EU-Stahlplan diese Woche endgültig scheitert

Brüssel (taz) – Reinhard Selten hätte es wahrscheinlich vorher gewußt. Aber Selten wurde nicht gefragt, obwohl er lange über die Anwendung der Spieltheorie im Bereich der Wirtschaftswissenschaft nachgedacht und dafür in diesem Jahr den Nobelpreis bekommen hat. Er hätte sicher vorausgesehen, daß der Europäische Stahlplan über die Wupper gehen würde, denn der ist ein klassisches Beispiel für die Spieltheorie.

Anfang 1993 reiste ein gewisser Ferdinand Braun im Auftrag der Europäischen Kommission durch Europa, um herauszufinden, ob die Stahlindustrie zum freiwilligen Abbau von Produktionskapazitäten bereit wäre. Er besuchte die Bosse der 17 wichtigsten Stahlkonzerne und fragte einen nach dem anderen, wieviel Millionen Tonnen Stahl sie einsparen würden, wenn dadurch für die restliche Produktion ein besserer Preis bezahlt würde. Wenn in der Europäischen Union pro Jahr rund 20 Millionen Tonnen Stahl weniger hergestellt werden, so die Kalkulation, dann wird der Stahlpreis so weit steigen, daß alle Unternehmen wieder rentabel arbeiten können.

Ferdinand Braun war früher als EG-Kommissar in Brüssel für Stahl zuständig. Er gehört zu den Leuten, die immer noch ein bißchen an ihrer alten Aufgabe hängen. Weil er die Stahlbosse einzeln befragt und ihnen für ihre Zusagen Vertraulichkeit versprochen hat, können wir ihn Spielleiter nennen. Denn eine der Voraussetzungen der Spieltheorie ist, daß die Entscheidungsträger nicht wissen, wie die anderen sich verhalten.

Wenn alle nur ein wenig mogeln ...

Die Grundidee ist einfach: Zeigen sich alle großzügig und versprechen große Stillegungen – notwendig wären rund 15 Prozent der Produktion – dann können sie damit rechnen, trotz der kleineren Stahlmengen wegen der besseren Preise etwas mehr Gewinn zu machen als bisher. Wenn aber ein oder zwei Stahlbosse sich knickrig zeigen und nichts stillegen, dann können sie auf Kosten der anderen Supergewinne einfahren. Die Verlockung ist groß, sieht ja keiner, schließlich hat ihnen der Spielleiter Vertraulichkeit versprochen. Allerdings: Wenn mehr als die Hälfte der Stahlbosse Produktionskürzungen verweigern, wird der Stahlplan abgeblasen und alle müssen mit den ruinös niedrigen Preisen leben.

Unterm Strich wären die Unternehmer bereit, so versicherte Spielleiter Braun nach seiner Europatour durch die Chefbüros, insgesamt 19 Millionen Jahrestonnen aufzugeben. Die Europäische Kommission, begeistert von der Vorstellung, das leidige Stahlproblem endlich vom Hals zu bekommen, sagte Hilfen zu. Eine Milliarde Mark wurde in Brüssel bereitgestellt, um die voraussichtliche Entlassung von 50.000 Stahlarbeitern sozial abzufedern. Außerdem werde die Kommission dafür sorgen, daß die Stahleinfuhren aus Nicht-EU-Ländern begrenzt würden.

Das war vor acht Monaten. Aber als es jetzt zum Schwur kam und die Stahlbosse die Karten auf den Tisch legen sollten, kam nur eine Einsparung von 11 Millionen Jahrestonnen zusammen. Zu wenig, meint die Kommission eisenhart. Die Stahlherren hatten zu hoch gepokert, sie hatten darauf vertraut, daß die anderen ihre Zusagen einhalten würden.

Die Kommission hat den Stahlplan für gescheitert erklärt, die endgültige Entscheidung liegt allerdings bei den zwölf Wirtschaftsministern der Mitgliedsländer. Wenn sie diese Woche den Daumen senken, dann werden die Stahlunternehmen mit der ganzen Härte des freien Marktes bestraft. Dann müssen sie weiter mit niedrigen Preisen leben – und einige wohl irgendwann schließen. Zwar hat sich der Stahlpreis im letzten Jahr leicht erholt. Doch die nächste Krise kommt bestimmt. Alois Berger

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