8. November 1989: Zurück zur Basis
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Seit Tagen ist es in Berlin eine Lust, durch die Stadt spazieren zu gehen. Die Stimmung, die sich im Süden der Republik breitzumachen beginnt, hat die Stadt noch nicht erreicht. Meine Mitbürger sind wie ausgewechselt. Kein geduckter Gang mehr, kein gesenkter Blick. Auf den Straßen laufen stolze und schöne Menschen herum, die sich freundlich und gerade in die Augen blicken, wenn sie einander begegnen. Ihr Selbstbewußtsein platzt aus allen Nähten.
In seiner Rede am vergangenen Samstag wandte sich der Schriftsteller Christoph Hein an die Berlinerinnen und Berliner „weil wir grad hier zusammen sind“. So muß es wohl gewesen sein. Die Menschen der Stadt hatten sich versammelt, wurden einander inne und können das nun nicht mehr vergessen. Wer sollte diesen Leuten noch etwas anhaben können?
Irgendein Politbüro jedenfalls nicht mehr. Die Herren nehmen gegen Mittag geschlossen ihren Hut und treten zurück, zum ersten Mal, seit es die DDR gibt.
Am Nachmittag erfahre ich aus dem Radio, daß rund 50.000 Mitglieder der SED-Parteibasis vor dem Gebäude des Zentralkomitees gegen die Führung demonstrieren. Dieses Spektakel will ich mir auf keinen Fall entgehen lassen.
Ich war vorhier nie im Leben auf einer Parteiversammlung, ahne aber, daß die Leute nicht bis in die Dunkelheit vor dem ZK herumlungern müßten, wenn sie schon früher den Mund so aufgemacht hätten, wie sie es heute tun. Einige sagen das auch. Es ist, als würde auch innerhalb der Partei die Macht wieder dahin zurückkehren, wo sie hingehört: an die Basis.
Wenn dieser Eindruck nicht trügt, ist am Abend wieder ein Gefecht gewonnen worden. Wolfram Kempe
Unser Autor ist Schriftsteller und Publizist. Er lebt in Berlin.
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