Streitgespräch

■ betr.: „Was signalisiert die Son nenblume“, taz vom 3.11.94

Zwei Beispiele, aus unserer Arbeit, des KV Aue/Schwarzenberg B'90/ Grüne Sachens, sollen hier verdeutlichen, wie absurd die Vergangenheitsklausel, die Frau Künast unterstellt, tatsächlich ist.

Wir leben hier im klassischen Sachsen, halbindustriell, heute oftmals stillgelegt, umrahmt um die jeweiligen industriellen Kerne von dörflichen Strukturen. Hier nun, im dörflichen Bereich, wurden Leute des KV B'90/ Grüne Aue vor zirka drei Jahren auf eine illegale Sondermülldeponie aufmerksam, die den Wassergrundstock des nahe gelegenen Dorfes zu verseuchen drohte, lagerte doch der Müll im Freien. Auch andere, hier nicht aufzuzählende, weil denkbare Gefahren drohten.

Die Sondermülldeponie mußte nach öffentlichkeitswirksamem Engagement sowie entsprechender politischer Arbeit im zuständigen Landkreis (Verwaltung bzw. Kreistag) durch das hiesige o.g. KV aufgelöst werden und wurde an den Absender retour geleitet, mit für jenen entsprechenden Auflagen.

Obgleich in dem Dorf das Engagement der Leute vom B'90/ Grüne honoriert wurde, man über den ganzen Zeitraum bis hin zur Abfahrt des Sondermülls eng zusammenarbeitete, schlug sich das in diesem Wahlkreis in keinem der drei zurückliegenden Wahlgänge positiv nieder, im Gegenteil: gerade hier fuhren wir mit die niedrigsten Ergebnisse ein. Dies war ein Beispiel.

Das nächste: In Aue plante (plant noch? Was wir momentan nicht wissen) ein traditionell-metallurgischer Betrieb die Modernisierung seiner Schmelzanlage. Herauskommen sollte eine Schmelzanlage zur Nickel- und Cadmiumgewinnung. Hierbei sollte aber ein Input zum Einsatz kommen, dessen einzelne Elemente unter Sondermüll rangieren. Woraus sich leicht ablesen läßt, daß auch der Ausstoß kein angenehmer sein würde. In Aue mit seiner besonderen Talkessellage und den Altlasten aus dem Bergbau hat uns das freilich aufmerksam werden lassen. Zumal auch umliegende Ortschaften, die schon in der Vergangenheit Schaden durch besagten Betrieb nahmen, wiederum betroffen wären.

Mehrere durch das B'90/ Grüne in diesem Kreis organisierte Bürgerforen und andere engagierte Schritte führten nicht nur zur vorläufigen (?) Zurücknahme des Modernisierungsantrages durch die Geschäftsleitung des metallurgischen Betriebes, vielmehr entstand auch eine rührige Bürgerinitiative.

Zum einen haben wir hier sehr offen gearbeitet, für und mit anderen Organisationen (Bürgerinitiative, Erzgebirgsverein) sowie in zuständigen kommunalen Parlamenten. Zum anderen haben wir deutlich gemacht, daß nicht die Schließung des Betriebes, somit die Vernichtung von Arbeitsplätzen unser Ziel war, sondern, angesichts des zu erwartenden Marktvolumens (auf Details soll hier verzichtet werden) die Investitionen gemäß der bestmöglichsten Umweltregelungen (hier 17. BImSch.) anzulegen. Einen Tag vor der Landtagswahl dann erschien in der Lokalseite des hier am meisten gelesenen Presseorgans ein Artikel, dessen Schwerpunktaussage vom Geschäftsführer des Betriebes die überraschende Zurücknahme des Modernisierungsantrages mit Hinweis, dadurch würden Arbeitsplätze gefährdet, was ja wohl das Ziel der Grünen gewesen sei, beinhalte.

Auch hier waren danach die Wahlergebnisse keine befriedigenden.

Ich schreibe dies, weil ganz offenbar wird, was auch in unserer sonstigen, weniger spektakulären Arbeit, nicht zum Zuge kommt: die Vergangenheit. [...] Es stellt sich mir/uns die Frage, ob wir nicht allzusehr mit ökologischen Themen hantieren, für die es hier im Osten eben keine vorhergelaufene 20jährige Gesellschaftsdebatte aufzuweisen gibt.

Das gilt es nachzuholen, auch und gerade wegen des wirtschaftlichen Zusammenhangs. Alldieweil, dem muß eine Debatte zwischen Westgrünen und Ostbürgerrechtlern vorausgehen, aus welcher dann erst bundesrepublikanische Grundnenner auch praktikabel für B'90/ Grüne hervorgehen, West wie Ost. [...] Lutz Süß, Aue

[...] Ihr macht flügelübergreifend einen Gegensatz auf zwischen „Hamburg und Frankfurt/Main, wo viele wohlhabende Leute wohnen, wo das grüne Milieu intakt ist“, und dem armen Osten, wo Ökologie und „so etwas völlig anders wirkt“. Wer im Kapitalismus im Westen groß geworden sei und in relativem Wohlstand war, habe an Ökologie gedacht. Diese breite Schicht gebe es in den neun Bundesländern eben gar nicht. Diesen Ansatz halte ich aus zwei Gründen für falsch:

Zum einen haben die Grünen mit dem Mannheimer Programm endlich die Ökologiepolitik mit der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik versöhnt. Es ist zwar im Bundestagswahlkampf nicht genügend gelungen, dieses auf breiter Basis zum Thema zu machen. Wir dürfen aber deshalb jetzt nicht zurück zum alten Dualismus, der Arbeitsplätze gegen Ökologie ausspielte. Bündnis 90/Die Grünen haben ein Programm für eine moderne ökologische Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik und damit gerade auch für den Aufbau Ost das bessere Konzept. Ökologie ist eben nicht mehr der Luxusartikel des Lehrerehepaares, das sich für die Zukunft seiner Kinder einen Volvo mit Katalysator leistet, sondern ökologische Wirtschaftspolitik ist die Voraussetzung für eine Wende auf dem Arbeitsmarkt und für künftig mehr Spielraum in der Sozialpolitik.

Zum zweiten vermag ich nicht zu erkennen, daß es im Osten kein grünes Milieu geben soll. Bündnisgrüne WählerInnen finden sich überrepräsentativ bei überwiegend weiblichen, akademisch gebildeten in Städten lebenden, oft alleinstehenden Menschen. Diese Gruppen gibt es im Osten genauso wie in Niedersachsen oder in Bayern. Mit dem Unterschied, daß diese Gruppen im Osten, wie zu befürchten ist, kommunistisch gewählt haben. Von Ausnahmen abgesehen, ist es uns nicht gelungen, uns in diesen Milieus zu verankern. Das ging ansatzweise nur in Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain, wo keine abgrenzende Bündnis-90-Politik gemacht, sondern auf allen Ebenen mit den Initiativen vor Ort zusammengearbeitet wurde. Wenn Bündnis 90/Die Grünen 1995 weiterhin in vielen Ostbezirken einen (Wahl-)Kampf gegen die PDS statt gegen die Große Koalition führen, wird der Zugang zum eigenen Milieu weiterhin verbaut bleiben. Die PDS ist, wie alle anderen Parteien, unser politischer Gegner – ein Teil ihrer WählerInnen aber gehört eigentlich zu uns. Norbert Schellberg,

Landesgeschäftsführer

Bündnis 90/Die Grünen