: Der Mai ist gekommen
■ Herbert Mai als neuer ÖTV-Chef nominiert / Ruf als „leiser Reformer“
Berlin (taz/AFP) – Nun steht es fest: Der Hauptvorstand der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr nominierte gestern den hessischen ÖTV-Bezirkschef Herbert Mai zum Nachfolger für die ausscheidende Monika Wulf-Mathies. Mai wird auf dem ÖTV-Wahlgewerkschaftstag am 13. Februar 1995 in Hannover als Kandidat vorgeschlagen. Seine Wahl gilt als sicher.
Der 47jährige gelernte Verwaltungsfachmann war Favorit der scheidenden Wulf-Mathies. Er gilt in der Gewerkschaft als Modernisierer, der sich schon in seinem Bezirk für individuelle Arbeitszeitregelungen stark gemacht hatte. Der Diskussion um Teilprivatisierung im öffentlichen Dienst steht Mai aufgeschlossen gegenüber. Diese Reformbereitschaft trug ihm allerdings auch schon den Vorwurf ein, die klassischen Themen der Tarifpolitik zu vernachlässigen.
Mai steht daher eine schwierige Gratwanderung bevor zwischen dem Wunsch der Basis nach Lohnsteigerung und Verhandlungspositionen, die auch die Beschäftigungswirkung von Tarifabschlüssen im Blickfeld haben. Angesichts der im März anstehenden Tarifverhandlungen hat der designierte ÖTV-Chef bereits „harte Verhandlungen“ um den Ausgleich der „gebeutelten Realeinkommen“ angekündigt.
Mit einer dezentralen Tarifpolitik, neuen Formen der Arbeitszeitgestaltung und mehr Basisdemokratie will Mai auch den anhaltenden Schwund unter den 1,9 Millionen ÖTV-Mitgliedern stoppen. Wie berichtet, muß die ÖTV aus Kostengründen intern Nullrunden fahren sowie Einstellungsstopps und Versetzungen verfügen.
Die 52jährige Monika Wulf- Mathies hatte ihr Amt gestern offiziell niedergelegt. Sie wechselt 1995 als eines von zwei deutschen Mitgliedern zur EU-Kommission nach Brüssel. Wulf-Mathies stand zwölf Jahre an der Spitze der ÖTV. Unter der Regie der promovierten Germanistin wurde die Wochenarbeitszeit im westdeutschen öffentlichen Dienst stufenweise auf 38,5 Stunden verkürzt. Für untere Lohngruppen und die Beschäftigten in sozialen Berufen vereinbarte die ÖTV deutliche Lohnzuwächse.
Nach dem großen Streik von 1992 erlebte sie ihre schwärzeste Stunde: Wegen des mageren 5,4- Prozent-Abschlusses hatte ihr die Basis in der Urabstimmung die Gefolgschaft verweigert. BD
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