Standbild: Hammel, spring!
■ betr.: "Stunde der Entscheidung"
„Stunde der Entscheidung“, Donnerstag, RTL, 20.15 Uhr
Wenn Wahlkämpfe längst wie Fernsehshows inszeniert werden, warum sollte man dann nicht eine Fernsehshow als Wahl inszenieren? Und sie von Hans Meiser mit seiner bundeskanzlerartigen Stumpfheit moderieren lassen? So scheint man bei RTL gedacht zu haben, als man am Donnerstag die „Stunde der Entscheidung“ schlagen ließ.
Die Idee der neuen Trash- Show ist simpel (und übrigens geklaut, nicht nur der brasilianische Sender Globo TV macht damit Quote, auch in Großbritannien fordert man erfolgreich „Do the right thing!“): In kurzen Filmsequenzen sehen wir also, wie die Chemielaborantin Andrea von ihrem Chef Zielinski erpreßt wird: Entweder „gehört sie ihm für eine Nacht“, wie es so schön heißt, oder er läßt Andreas Mann feuern, der zufällig in derselben Firma arbeitet.
Per TED dürfen die ZuschauerInnen Andrea „interaktiv“ ihre Entscheidung abnehmen. Hans Meiser mit seinen ewigen Karteikarten bleut uns zwischen den kurzen Schmierstreifen immer wieder die Telefonnummern ein, und tatsächlich ist die Wahlbeteiligung hoch: 350.000 ZuschauerInnen rufen an!!! Dann dürfen Roland Kaiser und Jenny Jürgens, offenbar zwei Experten für sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, im Wahlstudio über Andreas „Stunde der Entscheidung“ diskutieren.
Aber, hey, die Telekratie ist eine Demokratie! Und darum dürfen alle mitwählen, selbst das Saalpublikum. In einer Art Hammelsprung verteilen sich die ZuschauerInnen am Ende der Sendung auf die Plätze in einem Ja- und einem Nein-Sitzblock. Wenig überraschend: Drei Viertel des Saalpublikums und der TV-Zuschauer sind dagegen, daß Andrea mit ihrem schmierigen Chef schläft. Allerdings waren die wenigen Gäste, die für das Schäferstündchen am (und um den) Arbeitsplatz votierten, mit sanfter Gewalt gezwungen worden, diesen Standpunkt zu vertreten. Merke: In der Telekratie darf keine Bank leer bleiben. Aber muß man heutzutage wirklich für den Arbeitsplatz seines Mannes ins Bett des Chefs? Sollten Frauen sexuelle Zudringlichkeiten von Kollegen nicht am besten mit einem gezielten Tritt quittieren? Solche Fragen werden freilich nicht per TED beantwortet. Es stimmt schon: Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten. Falls so das interaktive Fernsehen der Zukunft aussieht, verzichte ich dankend. Tilman Baumgärtel
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