: Nichts wie rein in die Parteien
Der SPD-Vordenker Thomas Meyer fragt nach der Zukunft des Politischen / Leben und Politik sollen wieder versöhnt werden / Die alten Volksparteien als neuer öffentlicher Ort ■ Von Edgar Wolfrum
Politik als Technik der Macht und als Entscheidungshandeln ist unverwüstlich. Darüber müssen wir uns keine Sorgen machen. Aber schon in den fünfziger Jahren hat Hannah Arendt angesichts von Totalitarismus und atomarer Vernichtungsdrohung die Prognose gestellt, daß das Politische in den modernen Massendemokratien bald verschwinden werde.
Das Politische: der flüchtige Aggregatzustand aus Politik und Leben, Teilhabe und Gestaltungskraft, Bürgerethik und öffentlicher Macht, befindet sich heute, so der Politologe Thomas Meyer in seinem neuen Buch, mehr denn je in einem Transformationsprozeß. In ihm erblicken Pessimisten Vorboten der Normalisierung seiner Verfallsform.
Aber hat es nicht zu allen Zeiten Kritik am Ungenügen der Zustände, hat es nicht immer Krisenbewußtsein und Endzeitstimmung gegeben? Politiker und Medien jammern landauf, landab über die Politikverdrossenheit der Bürgerinnen und Bürger – und legen damit eine falsche Fährte. Meyer hingegen führt uns auf vier objektive Verfallsebenen des Politischen, die aus den Paradoxien der Moderne erwachsen. Also ein weiterer Schwanengesang auf angeblich gescheiterte Großprojekte und Utopien, wie sie derzeit auf der Linken und Rechten so schick sind?
Nein, das Buch ist keine Abrechnung, Meyer übt sich nicht im Frontenwechsel und auch nicht im Exorzismus universalistischer Ideen. Er stellt vielmehr altmodische Fragen: Wie können die Verfallstendenzen aufgehalten werden? Gelingt eine neuerliche Transformation des Politischen, die Leben und Politik wenigstens so weit versöhnt, daß sie auf Rufweite sich noch verständigen und damit politisches Handeln erfolgreich machen können? Meyer sucht nach praktikablen Wegen, mit der Krise der Moderne umzugehen; und genau das zeichnet ihn vor vielen anderen aus.
Beim Blick auf die Schwundstellen des Politischen beschreibt Meyer zuerst den Verlust der staatlichen Gestaltungsmacht und den Wandel der Bürgertugend. Die politische Soveränität des Nationalstaates hat sich dramatisch aufgelöst. Waren- und Kapitalmärkte sind ebenso global geworden wie die ökologischen Gefährdungen. Die Entscheidungsverhältnisse bleiben aber dem nationalstaatlichen Rahmen verhaftet und treffen somit die Ursachen nicht mehr, auf die sie zielen. Alle wissen dies und frönen zugleich einer wohlfeilen Verdrängungskultur. Die alte Realpolitik degeneriert zur Illusionspolitik, da sie nur noch einem Oberflächenrealismus huldigt. Bürgertugenden wie Gerechtigkeitssinn, Mut und Urteilskraft, ganz zu schweigen von Solidarität, werden über Bord geworfen, und die politischen Ressourcen der Gesellschaft schrumpfen zusammen auf ein Häuflein von Reformorientierten, während der parasitäre Vitalismus der Yuppie-Kultur auf der einen Seite und die Hoffnungslosigkeit der Deklassierten auf der anderen Seite wächst.
Dazu gesellen sich zwei weitere Schwundstellen des Politischen. Zum einen ist die Verbindung zwischen Leben und Politik gekappt. Die Klasse der Berufspolitiker absolviert einen einheitlichen Lebensweg, der an den typischen gesellschaftlichen Lebenslagen zielstrebig vorbeiführt. Erfahrungen in der Lebenswelt zählen nicht, prämiert werden Anpassung und Klassensolidarität. Zum anderen wird der politische Raum ohne Umschweife preisgegeben. In der neuen Medienwelt des Infotainments präsentiert sich die Politik als visuelle Schaupolitik und bewirkt bestenfalls noch einen Placebo-Effekt.
Wer Meyers frühere Arbeiten kennt, der wundert sich, wie wenig Gewicht er heute dem Fundamentalismus, der das Politische liquidiert, beimißt. Und das zu einer Zeit, in der überall religiöser Fanatismus hochschießt und die westlichen Demokratien rechtsradikale männerbündische Parteien hervorbringen. Das verweist auf ein weiteres Manko: Die Kategorie Geschlecht bleibt bei Meyer außen vor. Daß Frauenrechte nach wie vor als Sonderrechte gelten, daß die politische Repräsentation von Frauen schwindet, wird nicht diskutiert. Und auch nicht die vielleicht ketzerische Frage, ob die männerdominierten Regierungen überhaupt als wirklich demokratisch angesehen werden können.
Während die Systemtheorie in eine radikale Absage an das Politischen mündet und Moral in der Politik naiv findet, während Jürgen Habermas jüngst hinter seine Theorie des kommunikativen Handelns zurückgeht und Ulrich Beck weiterhin nach Lösungen sucht, wie ein Forum der gesellschaftlichen Öffentlichkeit hergestellt werden kann, skizziert Meyer bereits die Chancen und eine Zukunft des Politischen. Meyer möchte ein Reformprojekt starten, in dem es zu einer Wiederannäherung der politischen Entscheidungen an die Quellen der politischen Probleme kommt. Und in dem eine diskursive Verständigungspraxis wiedergewonnen werden kann. Eine Medienethik, Mut zu forensischer Sprache, Revitalisierung von Solidarität und Urteilsfähigkeit und vor allem die Öffnung der politischen Klasse und der Parteien sind dafür in seinen Augen notwendig. Obwohl das Ansehen der Volksparteien an einem Tiefpunkt angelangt ist, setzt Meyer auf sie. Es sind „allein die Volksparteien, die nach Organisationsform und politischem Anspruch in der Lage sind, im Hinblick auf gesamtgesellschaftliche politische Handlungsprogramme das breite Spektrum der Interessen und Werte noch einmal zu integrieren und mehrheitsfähig zu machen“.
Meyer plädiert also am Ende dafür, die Volksparteien zu einem modernen Äquivalent für den klassischen öffentlichen Ort zu machen, an dem sich Bürgerinnen und Bürger versammeln und von wo aus sie gestaltend eingreifen. Das klingt bescheiden, hat aber den Vorteil, daß es dort ansetzt, wo wir stehen, mithin realisierbar sein könnte. Wenn wir es wollen.
Thomas Meyer: „Die Transformation des Politischen“. Suhrkamp, Ffm 1994, 276 Seiten, 19,80 DM
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