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Mehrsprachigkeit ist ein Grundrecht

■ Forderungen nach bildungspolitischer und fachdidaktischer Reform des neusprachlichen Unterrichts als Teil der Europäischen Union / Sprachenvielfalt und Fremdsprachenunterricht schon in der ersten...

Seit 1993 vollzieht sich die europäische Einigung in einem immer rascheren Tempo. In einem geeinten Europa ohne Paßkontrollen und Zölle wird eine reibungslose Kommunikation immer bedeutender. Der EU-Bürger muß Fremdsprachen beherrschen. Doch noch immer kommen viele Jugendliche mit eher bescheidenen Sprachkenntnissen aus der Schule.

Reinhold Freudenstein, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Marburg, fordert deshalb eine grundlegende Umgestaltung des Fremdsprachenunterrichts an unseren Schulen.

taz: Welche Mängel hat der Fremdsprachenunterricht in der Schule?

Reinhold Freudenstein: In den vergangenen hundert Jahren hat sich im Sprachunterricht in der Schule nur wenig geändert. Natürlich sind die Lehrbücher bunter geworden. Aber die Grammatik- Übersetzungs-Methode des 19. Jahrhunderts bestimmt noch immer den Unterricht, obwohl sie längst als überholt gilt. Sich frei in einer Sprache zu bewegen, lernen die Schüler bestenfalls während Auslandsaufenthalten.

Was muß sich am Sprachunterricht ändern?

Der Sprachunterricht sollte nicht auf den Einsatz von Medien verzichten. Über Video und Tonband können muttersprachige Sprecher in den Klassenraum geholt werden. Darüber lernen die Schüler Aussprache und Intonation am besten. Die Schüler müßten viel mehr selber sprechen. Auch alternative Methoden, die Sprachen nicht nur über den Kopf vermitteln, sondern sich auch um das Erleben der Sprache in einem ganzheitlichen Ansatz bemühen, könnten in Teilen im Schulunterricht aufgenommen werden.

In welchem Alter sollten Schüler die erste Fremdsprache lernen?

Wenn wir zur Mehrsprachigkeit erziehen wollen, sollten wir die erste Fremdsprache bereits in der Grundschule unterrichten. Ab Klasse fünf könnte in dieser Sprache Sachunterricht gegeben werden. Zudem wäre Zeit für weitere Sprachen. Die Ansätze der bilingualen Realschulen und Gymnasien gehen in die richtige Richtung.

Sind Schüler mit mehreren Fremdsprachen nicht überfordert?

Überhaupt nicht. Je früher Kinder mit einer Sprache in Berührung kommen, desto leichter fällt sie ihnen. Der Spracherwerb läuft dann ähnlich wie in der Muttersprache, ist geprägt vom Alltagsgebrauch. Wer meint, eine Erziehung zur Mehrsprachigkeit sei utopisch, orientiert sich einseitig an herkömmlichen Lernerfahrungen mit Sprachunterricht in unserem Land. Ein Kind in Nigeria beispielsweise wächst mit mehreren Sprachen auf, die es auch im Alltag anwenden muß. Im Europa Ende der neunziger Jahre werden auch hier Kinder Sprachen nicht mehr nur im Klassenzimmer nutzen, sondern Fremdsprachen werden außerhalb wichtige Zwecke erfüllen.

Müssen für einen solchen Sprachunterricht die Lehrer anders ausgebildet werden?

Es ist zu überlegen, ob wir es uns mittel- oder langfristig in Europa nicht leisten sollten, Lehrer ihre Muttersprache als Fremdsprache unterrichten zu lassen. Deutsche würden in Spanien Deutsch unterrichten, Franzosen bei uns Französisch. Das setzt natürlich eine völlig neu geordnete Lehrerausbildung voraus, etwa in dem Sinne wie bereits Studiengänge in Hamburg, München oder Berlin Pädagogik für Deutsch als Fremdsprache vermitteln.

Welchen Beitrag kann der Fremdsprachenunterricht zur europäischen Integration leisten?

Über das Erlernen fremder Sprachen lernen die Schüler fremde Kulturen kennen, ein wichtiger Schritt gegen Fremdenfeindlichkeit. Deshalb sollten auch Sitten und Gebräuche des anderen Landes Gegenstand des Sprachunterrichts sein. Auch ein vereinigtes Europa wird mehrsprachig bleiben. Mehrsprachigkeit ist daher ein Grundrecht für junge Europäer. Interview: Anja Dilk

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