: Verbaler Striptease im Abendkleid
■ „Le Voyeur“: Jan Lauwers Needcompany aus Brüssel gastiert im Hebbel Theater
Ein Voyeur ist jemand, der beobachtet, ohne einzugreifen. Das gilt nicht nur im Zusammenhang mit Sex. Für Jan Lauwers, Gründer und Leiter der belgischen Needcompany, ist der Begriff des Voyeurs die Generalüberschrift des heutigen Daseins: Der Mensch beobachtet, was in seiner Umgebung abläuft, nimmt gezwungenermaßen daran teil und agiert doch mit der Gleichgültigkeit eines Außenstehenden – als Überlebensstrategie. Der Handelnde wird zum Voyeur seiner eigenen Aktion.
Lauwers zweiter Blick gilt dem Naheliegenden: Das Zuschauen beim Sex als Antwort auf die Bedrohungen des Aids-Zeitalters. Eros und Tod, das große Theaterthema, kombiniert er mit einem bösen Blick auf das Hier und Heute. Außerdem nimmt er noch die Macht als Leitlinie hinzu. Eine bombastische Theaterspielwiese und genügend Stoff für einen Dreiteiler: The Snakesong Trilogy. Der erste trägt den Titel „Le Voyeur“.
Der Abend ist von Alberto Moravia inspiriert, dem großen italienischen Gesellschaftschronisten, dessen Werk fast ausschließlich von der Verbindung zwischen Macht und Sexualität handelt. Lauwers geht das Mammutthema äußerst reduziert an. Statt großer Theaterbilder stellt er die Sprache in den Mittelpunkt. Sein Konzept ist minimalistisch, obwohl es auf den ersten Blick überhaupt nicht so aussieht. Tanz, Musik und Filmeinspielungen stehen neben dem Schwall von Wörtern, eine Phalanx von 15 glitzernden Kronleuchtern fährt in einer Szene vom Schnürboden herab. Aber die multimedialen Mittel kommen nur als Ausrufezeichen zum Einsatz.
Die schwarz ausgeschlagene Bühne ist fast leer. Mikrophonständer – zu Gruppen arrangiert – stehen wie Skulpturen im Raum. Vorne an den Rändern zwei Tische, ebenfalls mit Mikro. Durch die Verstärkung verlieren die Äußerungen der Figuren den privaten Charakter, obwohl es fast ausschließlich um sehr intime Dinge geht. Die Protagonisten werden zu Voyeuren ihrer eigenen Worte.
In den beiden Zentralszenen findet eine Befragung statt. Eine vervierfachte Frau soll vor ihrem verdoppelten Mann erzählen, warum Sex mit ihrem Liebhaber besser funktioniert als mit ihm. Die Identitäten sind austauschbar. Das Interview läuft in verschiedenen Sprachen und mit vielen pornographischen Kleinigkeiten ab, gedolmetscht von zwei Psycho-Moderatoren wie aus der Fernsehshow: ein Professor und eine verklemmte Analytikerin, die ständig verkrampft locker nachhakt. In der zweiten Szene dreht sich der Spieß um. Der Professor muß Rede und Antwort stehen.
Selbst die scheinbare Ehrlichkeit ist inszeniert. Die Frauen ziehen sich verbal aus und behalten doch ihre Abendkleider an. Die Contenance verlieren sie nur für Momente und ohne Folgen. Ein Zucken, ein Zittern, ein pseudoekstatischer Tanz mit versteinerten Gesichtern. Feuer gibt es nur als kurze Filmeinspielung. Und unter allem liegt eine feine Ironie. Die Schauspieler untertreiben ständig, die detaillierte Beschreibung verschiedenster Sexpraktiken wirkt so eher witzig als pornographisch.
Am Schluß wird der immer schweigsamere Professor gefragt, ob er irgend etwas zu bereuen habe. Er antwortet nicht. Im Saal geht das Licht an. Der schwächliche Mann wird hinausgeführt, er will in eine andere Richtung gehen als seine Begleiterin. Mit so vielen möglichen Antworten ist gespielt worden an diesem Abend, trotzdem hat es keine einzige Lösung gegeben. Das Innerste nach außen kehren und trotzdem nie privat werden, das wurde gezeigt. Deshalb bleibt die letzte Frage im erleuchteten Zuschauerraum stehen. Für alle. Gerd Hartmann
The Snakesong Trilogy, Teil I: „Le Voyeur“ nach Texten von Alberto Moravia, Needcompany, bis 20.11., 20 Uhr, Hebbel Theater, Stresemannstraße 29, Kreuzberg.
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