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Revolution zur Miete

Eine Prager Vorstadtbühne, Keimzelle der „samtenen Revolution“, auf dem Weg in den kapitalistischen Frühling  ■ Von Philip Ther

Vor fünf Jahren war Prag selbst in der Sonne grau. Die Menschen schlichen wie geprügelte Hunde durch die Straßen. Glasnost, Perestroika, Gorbatschow hin oder her, sie glaubten nicht mehr an einen zweiten Frühling wie 1968. In einem besonders tristen Vorort, Prag Smichov, patroullierten zwei Zivilpolizisten. Man konnte sie an ihren Lederjacken und den aufgeschwemmten Gesichtern erkennen. Wir sahen sie und lachten.

Die Lederjacken hatten damals nichts zu lachen. Sie sollten nicht nur den sowjetischen Panzer in Smichov bewachen, der an die Befreiung Prags 1945 gemahnen sollte, aber stets nur an 1968 erinnerte, sondern auch das Realistické Divadlo – das „realistische“ Theater, um das es hier eigentlich geht. Nun, wie bewacht man ein Theater? Und was soll man den Vorgesetzten erzählen, wenn dies Theater Texte von Thomas G. Masaryk spielt, Staatsgründer immerhin, Antikommunist aber auch? Was will man tun, wenn man zwar Knüppel und Pistole in Griffweite hat, die Intellektuellen einen aber an der Nase herumführen?

Die Lederjacken waren nicht wachsam genug. Im November 1989 wurde vor ihren Augen im Realistischen Theater die tschechoslowakische Revolution, die „samtene Revolution“ geboren. Das erste Aufbegehren gegen die Staatsmacht war das Stück „Res Publica“ gewesen. Gespielt wurde es erstmals am 27. Oktober 1988 zum 70. Jahrestag der tschechoslowakischen Staatsgründung. In dem Stück kamen Textpassagen von Masaryk vor. Der Philosoph war Demokrat und Humanist und ähnlich wie sein geistiger Nachfolger Havel ein Moralist. Die Hardliner im Kulturministerium wollten das Stück absetzen, doch das Theater spielte einfach weiter.

Ein Jahr nach „Res Publica I“ brachte das Realistické die Fortsetzung „Res Publica II“ auf die Bühne. „Res Publica II“ erinnerte an die Ideale des Jahres 1968. In den Texten waren Zitate von Milan Kundera und Václav Havel versteckt. Die Zensoren bemerkten dies zunächst nicht, und ihnen fehlte auch schon die Durchsetzungskraft, um zu reagieren.

Am 18. November schlug die Stunde des Realistické und der tschechoslowakischen Intellektuellen. Die Machthaber hatten am Vorabend auf eine Studentendemonstration in der Innenstadt eingeprügelt. Aus Protest gegen die Prügelei wurde im Smichover Theater ein Generalstreik der Schauspieler ausgerufen, dem sich dann alle anderen Kulturschaffenden, die Studenten und die Arbeiter anschlossen. Die Kommunisten gaben nach.

Man soll, man muß an den Winter 1989/90 erinnern: Es war eine phantastische Zeit. Auf den Straßen in Prag ein bizarrer Rollentausch: Erst war die Bevölkerung gebückt herumgelaufen, die Staatsmacht befehlshaberisch aufrecht. Jetzt schlichen die Polizisten durch die Straßen, und die Menschen gingen aufrecht. Das Realistické erfüllte damals ein ständiges Sausen an Stimmen und Gedanken. Anfang 1990 kam der erste Bruch für das tschechische Theater. Die Intellektuellen, die hier produzierten und diskutierten, mußten regieren! Im Realistické spürte man diesen Wechsel nicht gleich, weil man damit beschäftigt war, verbotene Stücke auf die Bühne zu bringen. Karel Kriz, der neue künstlerische Direktor, inszenierte Havels „Asanace“ (Sanierung), Ivan Klimas „Cukrarna Myriam“ (Miriams Zuckerbäckerei) und Josef Topols „Hodina Lásky“ (Eine Stunde der Liebe). „Travestie“ von Tom Stoppard und eine ausgezeichnete Inszenierung von Taboris „Mein Kampf“ folgten.

Wenn man die Dramaturgin des Realistické, Vlasta Gallerová heute an das Jahr 1990 erinnert, wird sie wehmütig. 1990 war das Theater stets voll; die Menschen wollten die Stücke sehen, die verboten gewesen waren. Doch viel zu schnell, als daß sich das Theater darauf einstellen konnte, kamen Filme und Rockmusik nach Prag. Ab 1991 gingen die Zuschauerzahlen um die Hälfte zurück.

1992 mußte das Realistické ein halbes Jahr schließen. Als es wiedereröffnet wurde, blieb das Publikum aus. Prag hatte sich zur Wirtschaftswunderstadt entwickelt. Jetzt hatten nach den Intellektuellen auch die normalen Bürger nur noch wenig Zeit für Kultur. Verschärft wurde die Krise durch ungeklärte Eigentumsverhältnisse um das Theatergebäude. Ziemlich bühnenreif erhoben mehrere Bürger Anspruch auf das Gebäude, so daß man Zuschauerraum und Foyer hätten zersägen müssen. Außerdem kostete das Gebäude erstmals Miete. Aufgrund einer gesetzlichen Sonderregelung für alle kulturellen Einrichtungen ist bis 1999 die Miete limitiert. Ansonsten wäre das Realistické bereits bankrott. Kein Prager Theater ist in der Lage, eine marktgerechte Miete zu bezahlen. Gleichzeitig kürzte der Staat die Subventionen für das Realistické.

Die Revolution fraß ihre Kinder nicht, aber sie schlug sie: Bei den Wahlen 1992 verloren die Moralisten die Macht an die Macher und die Realisten – wie anderswo auch. Gallerová beklagt sich bitter, wie die Revolutionäre von 1989 ins Abseits gedrängt wurden: „Man spricht das Wort Intellektuelle heute wieder aus wie in den Fünfzigern.“ Ihre Verbitterung ist plausibel: Gallerová ist wie viele Bürgerrechtler in der ehemaligen DDR das psychologische Opfer der eigenen Erwartungen von 1989.

Jan Kolář, Chefredakteur der Divadelni Noviny, der tschechischen Theaterzeitung, hält Gallerovás Kulturpessimismus für überzogen. Kolář ist sicher, daß sich die tschechischen Theater trotz des vervielfachten Kulturangebots halten werden. Tatsächlich gibt es in Prag noch heute 13 Theater, ebenso viele wie 1990. Schließen mußten bisher nur zwei Bühnen, außerdem fungiert das berühmte „Na Zabradli“ (Theater am Geländer) bloß noch als Spielstätte ohne festes Ensemble. Andererseits gibt es mehr und mehr Off-Bühnen.

„Vorbei ist es nur mit der Bedeutung des Theaters als dem Mittelpunkt der Nation“, sagt Kolář. Die Krise des Realistické sieht er als größtenteils hausgemacht an: „Das Theater hat zu lange altmodisches Repertoiretheater“ geboten. Im Falle des Smichover Theaters kommt erschwerend hinzu, daß es mit 90 Angestellten nicht so rasch reagieren konnte wie die kleineren, auch im Westen bekannten Bühnen wie das „Studio Ypsilon“, das vor zwei Jahren bei den Festspielen in Berlin auftrat. Ein weiterer Nachteil ist der übergroße Zuschauerraum des Realistické mit seinen 400 Sitzplätzen, der bei schwachem Besuch für Schauspieler wie Zuschauer entsprechend demotivierend wirkt.

Die schlechte Stimmung Vlasta Gallerovás steht in merkwürdigem Widerspruch zum überraschenden Comeback des Realistické seit 1992. Der erste Schritt war die Umbenennung des Hauses in „Divadlo Labyrint“. Die Festlegung auf „realistisch“ war zu einseitig und belastend geworden. Im Keller kam als zweiter Aufführort das „Studio Labyrint“ hinzu. Ins Studio zieht es vor allem das neue Publikum das Labyrint, junge Leute, häufig Studenten. Der zweite Schritt war ein neues Programm. Man sperrte sich nicht mehr prinzipiell gegen alles, was in irgendeiner Weise nach Kommerz roch. Die Dada-Opera, inzwischen bei Gastspielen in England sehr erfolgreich, karikierte treffend die Sprechblasen der Wende-Demokraten in der tschechischen Republik. Mit „Veslo a Ruže“ erkannte das Theater Europa als Thema. Das Stück handelt vom heiligen Albert, dem Christianisierer der Preußen und einem der ersten Europa-Visionäre.

Probleme kleiner Nationen wie der Tschechen kann man wiederum gut am Theater Labyrint ablesen. In den ersten Jahren nach der Wende war im Westen das Interesse an tschechischer Kultur sehr groß. Intellektuelle wie Václav Havel faszinierten das Ausland – mehr noch als die eigenen Landsleute. „Man interessiert sich nicht mehr für uns“, klagt Vlasta Gallerová heute. Das Labyrint beispielsweise erhielt bisher keine einzige Einladung nach Deutschland, auch nicht für die Dada-Opera, bei der die Sprachhürde naturgemäß weniger ins Gewicht fallen würde.

Trotz der Enttäuschung wird das Labyrint sich eine Nabelschau nicht leisten können. Das Theatergebäude ist als einziges in der näheren Umgebung nicht restauriert. Gekauft hat das Labyrint vergangenes Jahr ein Filmemacher slowakischer Herkunft – mit welchem Geld blieb lange unklar. Eines Tages tauchte vor dem Labyrint ein Abgesandter der Kirch-Gruppe auf, der sich verhielt, als sei er der Eigentümer. Vlasta Gallerová weiß, daß die Mietbindung nur bis 1999 läuft. Das Theater würde dann als Kino oder Verwaltungsgebäude wesentlich mehr Gewinn abwerfen.

Noch fünf Jahre bis dahin. Halbzeit für die Bühne, auf der die Parteikommunisten vor fünf Jahren die Macht abgeben mußten.

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