Batida de vino zur Geburt

■ Bittere Politik und würzige Küche in D. Hallers Buch „Bolivianische Rezepte“

Sie essen Weißbrot, und sie leiden Hunger. Boliviens größtes soziales Problem ist die Migration der ländlichen Indiobevölkerung in die Städte. Oder was man für Städte hält, diese Slumgebiete, wo die Menschen ihre traditionelle Kultur eintauschen gegen eine armselige, monotone, „verwestlichte“ Lebensform.

Ihre Vorfahren bauten eine Vielzahl ökologisch angepaßter Nahrungsmittel an, die sie der kargen Hochlanderde abtrotzten. Auf der Grundlage von Nahrungsmittelüberschüssen konnten die frühen Hochkulturen entstehen. Mit den Indio-Reichen zerstörte der Kolonialismus nicht nur die andine Küchenkultur, sondern ein ökologisch angepaßtes Versorgungssystem in einem engmaschigen sozialen Netz von Patenschaften (Ayllus). Der Run auf das im alten Inka-Reich liegende Gold und das Silber in Potosi verdrängte die Nahrungsmittelproduktion von der zentralen Rolle in der Wirtschaft. Die landwirtschaftliche Produktion sank, der Hunger eroberte das Land.

Unter den heutigen Weltmarktbedingungen ist es für die Campesinos lukrativer, Kokain statt Weizen anzubauen und dafür Hamburger zu importieren. Ein kulinarischer Kulturkrieg hat in Bolivien gewütet. Ein Land, das sich selbst ernähren könnte, hungert. Die Weltbank mußte ein Ernährungsprogramm aufstellen.

„Den täglichen Mangel vor Augen, leben und essen die meisten nach dem Motto: ,Cuando hay, se come. Cuando no hay, se aguanta.‘ – Wenn's was gibt, dann ißt man, wenn's nichts gibt, muß man durchhalten.“

Rezepte aus Hungerszeiten vorzustellen, empfände Daniel Haller jedoch als Verhöhnung. Er hat deshalb traditionelle Gerichte aus dem Hochland zusammengetragen. Und die sind gar nicht so exotisch. Wir kennen aus den Anden Kartoffel, Mais und Chili. Getreide, das von den spanischen Eroberern mitgebracht wurde, ist ebenfalls Bestandteil bolivianischer Küche. Alle Rezepte sind unter hiesigen Verhältnissen leicht nachzukochen.

Ganz einfach die folgende Batida de vino: Zwei Eier und 1-2 EL Zucker gut verschlagen, mit 1/3 Flasche Rotwein vermischen, fertig ist die „Biblia“, die Bibel. Die reicht man im Cochabamba-Tal gebärenden Frauen, um die Entbindung zu beschleunigen.

Mit Rezepten ist's aber nicht getan. In Hallers Kochbuch finden auch die unappetitlichen Aspekte ihren Platz: die wirtschaftliche, politische und militärische Krise des Landes, die auch die Landwirtschaft weitgehend zerstörten. Die Ernährungskrise zeigt den Niedergang einer Kultur.

Anhand des Siegeszugs des Weißbrots erläutert Haller die Landwirtschaft, die Besitzverhältnisse, die Anbauweisen, die Verteilsysteme, die Kochtechniken, das Gesundheitsbewußtsein der Indios in Geschichte und Gegenwart. Und er bringt Erstaunliches zu Tage. Auf den Seiten seines Kochbuchs erhält man tiefere Einblicke ins bolivianische Leben und in die Sozialgeschichte des Landes als aus zehn theoretischen Abhandlungen. Es ist mehr als ein Kochbuch – kein Reiseführer könnte Bolivien näherbringen.

Ein unprätentiöses, sympathisches schönes und ausgesprochen sorgfältig gemachtes Buch, das vielfältigsten Interessen und Auskunftswünschen gerecht wird, mit Fotos, Glossar, Ausspracheregeln, Rezept- und Literaturverzeichnis. Und jetzt bitte erstmal einen heißen Te con T, Tee mit Schnaps, Zucker und Zimt! Stefan Bruns

Daniel Haller: „Bolivianische Rezepte. Von bitterer Politik und würziger Küche“, Rotpunktverlag Zürich, 248 Seiten, 42 DM