: Tanzen zum Ganzen
■ Herbie Hancock rockt kosmische Harmonie - und setzt für alles Weitere auf die interaktive CD
Ein Kulturpessimist war er nie – aber auch kein Traditionsverächter. Herbie Hancock, Jahrgang 1940, war von 1963 bis 1968 gefeierter Pianist im Quintett von Miles Davis, mit dem er auch die elektronischen Instrumente für den Jazz entdeckte. Seit er sich auf eigene Beine stellte, verfolgte er einerseits das akustische Quintett-Format weiter und profilierte sich andererseits mit Platten wie „Headhunters“ und „Future Shock“ als exzellenter innovativer Disco-Musiker. Nachdem er 1993 mit akustischem Jazz sein „Tribute To Miles“ abgeliefert hatte, ist nun die Disco-Produktion „Dis Is De Drum“ fertig. Sie erscheint erstmals auf dem Label „Verve“, zu dem er wechselte, weil die „Philips-Familie eine Menge Möglichkeiten mit der interaktiven CD bietet“.
taz: Was planen Sie mit den interaktiven CDs?
Herbie Hancock: Wir wollen einen Kurs „Singing with Seth“ herausbringen. Seth ist Seth Ricks, der Vocal-Coach für Madonna, Stevie Wonder, Luther Vandross, Julio Iglesias, Michael Jackson und viele andere. Wir haben ursprünglich mit der Produktion eines Videos begonnen, doch dann hat der Chef von Philips Media in Amerika, Scott Martin, angekündigt, daß sie die Firma RGA als interaktives Label gründen werden. Jetzt übertragen wir es auf interaktive Formate wie CD-I.
Ehrlich gesagt habe ich mir Ihren Einstieg ins interaktive Geschäft sensationeller vorgestellt als mit so einer Unterrichtsscheibe. Ich dachte eher, daß Sie eine CD- ROM so programmieren, daß sie der Käufer in sein Laufwerk einlegen kann und mit Versatzstücken, die Sie entworfen haben, am eigenen Computer „komponiert“.
Die Technologie ist noch nicht so weit. Noch fehlt die Software. Aber so etwas wird es ganz sicher geben. Nur bin ich nicht im Hauptberuf Programmierer. Aber Sie haben recht: Wir haben in der Unterhaltung so lange in einer linearen Welt gelebt, in der man ein Produkt nur anhören oder nicht anhören konnte. Jetzt kann man unterschiedliche Pfade wählen. Das erfordert völlig neues Nachdenken. Man kann plötzlich ein Pionier sein und etwas völlig Neues machen. Aber eigentlich wollten wir über Musik reden.
Machen wir doch – Sie sind für mich deshalb interessant, weil Sie zu den Künstlern gehören, die als Technik-Freak auf der Höhe der Entwicklung stehen. Aber bitte sehr: Ihre neue Platte heißt „Dis Is De Drum“. Haben Sie nicht Angst, daß durch solche Schreibweisen die korrekte Orthographie verlorengeht?
Auch Songs wie „Ain't Misbehavin‘“ waren nicht korrekt geschrieben. „Ain't“ ist schwarzer Slang, und „Dis Is De Drum“ stammt von der Straße. Ich wollte diese Verbindung zur Straße. Eins der wesentlichen Elemente der Platte ist der Straßensound, allerdings in einer veredelten Form...
...sagt der wohlhabende, wohlsituierte Mann.
Ich wurde als street boy geboren. Mein Vater war Postmann, Taxifahrer und Versicherungsvertreter. Dann hatte er ein Lebensmittelgeschäft, und bevor er in Rente ging, arbeitete er als städtischer Fleischinspektor in den Schlachthöfen von Chicago. Er war also meist Arbeiter, und meine Mutter war meist Hausfrau. Zwischendurch arbeitete sie als Sekretärin. Es ist schlimm, daß es Arbeitslose gibt, die an den Ecken stehen und Schilder hochhalten müssen, daß sie jede Art von Arbeit für wenig Geld annehmen. Es ist schlimm, daß es Leute gibt, die an Kreuzungen bei Rotlicht für ein paar Münzen die Scheiben putzen. Andererseits müßten in Großstädten wie Los Angeles, Chicago oder New Orleans die Straßen gereinigt werden. Die Häuser sind kaputt und müßten ebenfalls repariert werden. Es fehlt nicht an Aufgaben, die erledigt werden müßten, aber die wirtschaftlich Mächtigen haben bisher nicht herausgefunden, wie man daraus Jobs macht. Dabei wäre nicht einmal ein großer Wechsel der Werte nötig. Man müßte nur den Menschen etwas mehr als die Technik achten. Das ergäbe ein Gefühl der Verantwortlichkeit in den Medien, im Fernsehen, im Kino, in der Musik.
Und das ist alles?
Ich habe keine wirklichen Lösungen. Ich versuche, mein Leben so zu leben, daß es einen Sinn für Verantwortlichkeit mit einschließt. So will ich auch meine Musik machen und helfen, Werte einzurichten, die eine harmonischere Art des Lebens schaffen. Es geht um die Humanität. Der Kapitalismus als Ausdruck der Demokratie braucht Veränderungen. Vor allem in meinem Land. Mit den neuen Technologien könnte man neue Arbeitsplätze für mehr Leute schaffen. Die bi-direktionale, interaktive Technologie beginnt gerade erst. Die Menschen haben eine Tendenz, von Technologie verwirrt zu werden, weil sie Angst haben, sie nicht zu überschauen. Aber es geht darum, Wege zu suchen, wie man sie nutzt, um die Probleme der Menschheit zu lösen: Armut, Arbeitslosigkeit. Da gäbe es viele Möglichkeiten.
Warum nannten Sie sich in den siebziger Jahren kurzzeitig „Mwandishi“?
Der Name „Mwandishi“ stammt aus der Sprache der Suaheli. Als wir die Platte machten, verlieh jemand jedem Mitglied der Band einen Namen. Mwandishi heißt Schreiber. Indem man diese afrikanischen Namen annahm, zeigte man seine Unterstützung für eine Art von revolutionärer Bewegung, die schwarze Bewegung. Diese Bewegungen für Bürgerrechte beeinflußte die Zukunft bis heute. Es war ein Weg, wie wir an dieser Bewegung teilhaben konnten. Heutzutage benutze ich den Namen Mwandishi nicht mehr. Aber wenn jemand Mwandishi ruft, reagiere ich. Der Song „Astenaro“ auf der Platte „Mwandishi“ war übrigens Angela Davis gewidmet. Ich traf sie bei einem unserer Konzerte. Das war eine große Ehre für mich.
Es gibt den Begriff der „Black Music“. Sehen Sie Ihre Musik an Ihre Hautfarbe gebunden?
Die Wurzeln meiner Musik kommen aus der afroamerikanischen Erfahrung, und die ist schwarz. Die Musik aber ist eher mit dem alltäglichen Leben als mit der Hautfarbe verbunden. Deshalb können sie Menschen aus allen Erdteilen verstehen. Sie schwarz zu nennen, könnte in die Irre führen. Das Album „Dis Is De Drum“ bringt verschiedene ethnische Ausdrücke zusammen, die alle ihren Charakter behalten. Wir haben alles: Afrika, Asien, Amerika. Wir wollten, daß verschiedene Kulturen und Genres ein harmonisches Ganzes ergeben, zu dem die Leute tanzen können.
Der Jazz-Superstar Wynton Marsalis hält wenig von Disco- Sounds. Was halten Sie von seinem Versuch, die Definition des Jazz auf das swingende, akustische Format einzugrenzen?
Manche Leute nennen etwas Jazz, und andere nennen dasselbe keinen Jazz. Es gibt graue Gebiete, wo es schwierig zu definieren ist. Was nennen Sie die Platte, die ich gemacht habe? Ist „Dis Is De Drum“ eine Jazzplatte? Für mich ist das Etikett nicht so wichtig.
Sie arbeiten auf „Dis Is De Drum“ und ihren anderen Disco- Platten mit Computern. Existiert für Sie noch ein Begriff von „Natürlichkeit“ und „natürlichem“ Klang?
Wir nähern uns einem Standard, wo man keinen Unterschied zwischen einem echten akustischen Instrument und einem Synthesizer hört. Beim Sampeln hat man den Klang eines originalen Instruments so genau, wie das bei einer CD der Fall ist.
Wenn es mit der Sampling- Technik wirklich so weit her ist, warum haben Sie dann noch Musiker auf der Bühne?
Mit den Synthesizern möchte ich keinesfalls die akustischen Instrumente ersetzen, aber mit ihnen kann ich mich mit der Technik, die ich kenne, besser ausdrücken. Ich kann weder Violine noch Flöte spielen, aber auf dem Keyboard bekomme ich diese Sounds.
Klingt pragmatisch.
Ja, Sampling eröffnet auch vielen Leuten, die nicht Musik studiert haben, gewaltige kreative Möglichkeiten. Interview: Werner Stiefele
Herbie Hancock: „Dis Is De Drum“. Verve/Polydor.
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