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Angst, sich schmutzig zu machen

■ Dimiter Gotscheff dekoriert das Thalia Theater mit Hans Henny Jahnns „Straßenecke“

Was sind das nur für Sätze! „Es ist kein Ende der Qual.“ – „Die Sehnsucht ist ein leeres Loch.“ – „Die Gedanken sind dolchartige Eisen.“ Wie nackt und roh, gleichsam unbehauen stehen diese pathetischen Aussagen in dem Stück Straßenecke. So kann man doch nicht schreiben.

Kann man doch. Hans Henny Jahnn schrieb so. Staunend blickt der heutige Leser auf die in den 20er Jahren entstandene Geschichte des „Negers“ James, der unter die Weißen geriet, die Mädchen und die Jungen verführte und dafür ersäuft werden soll wie ein Vieh. Halb fremdelt der Leser, halb zieht es ihn dahin. Wilder, wüster Hans Henny Jahnn. Ihm ist das Verlangen nach Küssen und Bissen noch nicht zur Blind-Date-Verabredung geronnen. Schwieriger, problematischer Hans Henny Jahnn. Über Rassismus und Ausgrenzung handelt sein Stück – und spricht doch stellenweise deren Sprache.

Armer Hans Henny Jahnn, er geriet an die Dekorateure. Im Dezember wäre er 100 Jahre alt geworden, also verwandelt sich Hamburg für einige Wochen in das, was es zu seinen Lebzeiten nie war: eine Hans-Henny-Jahnn-Stadt. Das Thalia zog am Freitag gegenüber Ernst-Deutsch-Theater (Medea) und Schauspielhaus (Armut, Reichtum, Mensch und Tier) nach und brachte mit der Straßenecke auch eins seiner Stücke heraus. Beziehungsweise: brachte es gerade nicht heraus. Der Gastregisseur Dimiter Gotscheff zerbrach das Stück und formte aus dem Material seine eigenen Bilder. Keine Werktreue also, sondern eine Auseinandersetzung mit einem schwierigen Text von einer heutigen Position aus? So hätte es sein können. Doch Gotscheff fielen nur Nettigkeiten ein.

Eine leicht ansteigende, unregelmäßige Bühne. Im Hintergrund der Prospekt einer arkadischen Landschaft. Hannes Hellmann gibt den James als statischen Schmerzensmann. Wie abwesend überhört er die Liebesbeteuerungen und Beschimpfungen, die Einflüsterungen und Boshaftigkeiten der anderen Figuren. Bildet James nur die Projektionsfläche für die Parade der Bohemiens, Kleinbürger und Primaballerinen, die da ihre Brunst in Arien kleiden und ihren Haß stammeln, die locken, zischeln und bellen? Oder spielt sich dieses Sammelsurium an Stimmen gar nur in seinem Kopf ab?

Man weiß es nicht und will es gar nicht wissen. Denn in den Sätzen schreit und wütet die Kreatur, in den Bildern aber plätschert allein der Kunstanspruch. Es sind erlesene Tableaus, die Gotscheff 75 irrlichternde Minuten lang präsentiert. In den Raffiniertheiten des Bildertheaters mag er sich also auskennen. Ein Führer durch die Welt des Hans Henny Jahnn ist er nicht. Und ein Verführer zu Jahnn schon gar nicht. Er hat zuviel Angst, sich schmutzig zu machen.

Dirk Knipphals

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