piwik no script img

Der Gaza-Streifen steht unter Schock

Am Freitag eröffnete die palästinensische Polizei das Feuer auf die eigene Bevölkerung. Nun ist die Kluft zwischen Arafat-Anhängern und Gegnern tiefer denn je. Friedensdemonstrationen und fieberhafte Vermittlungsbemühungen

Im Krankenhaus sind die Zeichen des vorangegangenen Tages mehr als augenfällig. Stapel von blutigen Kleidungsstücken und Laken werden weggeworfen. Das „Shafia-Hospital“ in Gaza-Stadt ist übervoll mit Verletzten und deren Angehörigen. Bei dem Zusammenstoß zwischen der palästinensischen Polizei und Anhängern der opositionellen Hamas und des Islamischen Dschihad waren am Freitag 14 Menschen ums Leben gekommen, über 200 wurden verletzt.

Die Gerüchte, wie es zu dem grausamen Szenario kommen konnte, gehen weit auseinander. Zumindest scheint klar, daß die palästinensische Polizei die große Falastin-Moschee im Zentrum von Gaza-Stadt, die freitags von mehreren tausend Hamas-Anhängern besucht wird, umstellt hatte. Als die Menschen nach dem Gebet aus der Moschee kamen, sahen sie sich von der Polizei umgeben. Was dann passierte, ist unklar. Vertreter der palästinensischen Regierungsbehörde behaupten, daß unter den Betenden bewaffnete Hamas-Anhänger waren, die von dort das Feuer auf die Polizei eröffneten. Augenzeugen berichten demgegenüber, die Polizisten hätten das Feuer eröffnet.

Einer der Augenzeugen war Ron Wilkinson, der Sprecher der UNO-Organisation für Palästina- Flüchtlinge, UNRWA. Von seinem Balkon aus sah er, wie die Polizei wahllos in die Menschenmenge schoß. „Das waren keine Hamas-Anhänger. Die Polizei schoß wahllos auf Bürger“, sagt Wilkinson und berichtet, daß seine Nachbarn in ihrer Angst zu ihm in die Wohnung gekommen seien. „Die Kinder haben am ganzen Körper gezittert, sie haben es einfach nicht verstanden. Die dachten, die Israelis sind zurück.“

Tatsächlich sind unter den Toten nicht nur Mitglieder von Hamas und Dschihad. Mindestens zwei sind Mitglieder von Al Fatah, der Organisation von PLO-Chef Arafat. Unter den Verletzten im Krankenhaus sind auch Kinder. Einer 12jähriger berichtet: „Ein Polizist sagte zu mir, ich solle den Arm heben. Dann schoß er.“ Er hat noch das zerfetzte Hemd an und zeigt den Durchschuß.

Die verbalen Konsequenzen, die aus dem „Ereignis“ gezogen werden, geben zu denken. „Eine öffentliche Entschuldigung von Arafat würde ich nicht akzeptieren“, sagt Amin Mankush, 35. Er ist unverletzt, war aber Augenzeuge. „Sie ( die palästinensische Regierung, d. Red.) arbeiten alle für Israel, sie müssen ihre Arbeit niederlegen.“ Und immer wieder hört man, daß im Vergleich zum Vorgehen der palästinensischen Polizei die israelische Armee zu bevorzugen wäre. „Sie haben immerhin versucht, nicht auf Menschen zu schießen.“ Auch seien sie abgezogen, wenn die Auseinandersetzungen drohten, zu blutig zu werden. „Unsere Poizei hat einfach weitergeschossen.“

An einer Straßenecke sitzen die Angehörigen und Freunde des getöteten Naher Achmed Azam, 25. Über ihnen hängt ein Laken mit der Aufschrift „Islamic Dschihad Movement“, jene oppositionelle Bewegung, die stärker noch als Hamas, jeden Kompromiß mit Israel ablehnt und damit auch die Autorität Arafats. Der Onkel des Toten sagt: „Wir brauchen sofort Wahlen. Wer immer gewählt werden wird, den werden wir akzeptieren.“ Und wenn Arafat diese Wahlen gewinnen würde? „Dann machen wir aus dem Gaza-Streifen die Hölle.“

Die Menschen im Gaza-Streifen haben Angst. Auch wenn sie ihre Bereitschaft ankündigen, die palästinensische „Arafat-Regierung“ zu bekämpfen, befürchten sie vor allem, daß der Gaza-Streifen, ihr Land nicht zur Ruhe kommt, nachdem sie so viele Hoffnungen an den Teilabzug der israelischen Armee geknüpft hatten. Als vor sieben Monaten die Polizei in Gaza ihre Arbeit aufnahm, wurde sie mit Jubel begrüßt. Diese Polizei war das Symbol für den Neuanfang im Autonomiegebiet. Und eben diese Kräfte schützen nun nicht die Rechte der Bevölkerung, sondern eröffnen das Feuer.

Und so passiert eben alles gleichzeitig. Während die Menschen auf der Straße und den Krankenhäusern, zu Hause und im Café jeden Glauben an diesen Neuanfang verneinen, treffen sich die verschiedenen palästinensischen Fraktionen. Noch Freitagnacht, nach den stundenlangen Auseinandersetzungen, setzten sich Vertreter von Hamas und Arafats Fatah zusammen, um miteinander zu sprechen. „Wir führen Gespräche, um die Situation zu entschärfen“, sagt der Führer von Hamas, Dr. Mahmud Al- Zahar. Auf seinem Weg zu einer Beerdigung wird er von einem Mann mit einem Gewehr in der Hand begleitet.

In seinem Haus trafen sich am Samstag Vertreter von Hamas mit arabisch-israelischen Knessetmitgliedern. Diese Palästinenser mit israelischem Paß sollen als Vermittler wirken. Einer von ihnen, Walid Sadek, sagt nach der Zusammenkunft, daß Kompromisse erarbeitet wurden, die er nun an Arafat weiterleiten werden. Bereits jetzt hat man sich darauf geeinigt, daß zwei unabhängige Komissionen ermitteln sollen, wie es zu dem „Massaker“ gekommen sei.

Und auf den Straßen organisieren die Anhänger der verschiedenen Fraktionen sogenannte „Friedensmärsche“. „Wir wollen keinen Bürgerkrieg“ und „Palästinenser schießen nicht auf Palästinenser“ lauten die Parolen. Alle Beerdigungen gehen friedlich vonstatten.

Es ist nicht klar, was nun geschehen wird. Die wilde Ablehnung Arafats steht unvermittelt neben der ebenso wilden Hoffnung, daß man einen Staat, eine Nation aufbauen kann. Der Haß auf die Besatzer, die 27 Jahre hier gewirkt haben und den Gaza-Streifen als eine Mischung von Müllhalde und Asozialität hinterlassen haben, ist ebenfalls ungebremst.

„Wir können nicht von heute auf morgen eine funktionierende Staatlichkeit aufbauen“, sagt Raji Sourani, „wenn wir dafür noch nicht einmal die Kompetenzen übertragen bekommen haben.“ Das werde immer vergessen, wenn über den Gaza-Streifen berichtet werde. Und: „Viele haben vorausgesehen, daß es zu einem solchen Zusammenstoß kommen würde. Jetzt müssen die Fraktionen miteinander sprechen.“ Julia Albrecht, Gaza

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen