Die Lust am Rasen

Nicht nur das Wetter, sondern auch ein zu signierendes Papier gefährdet den für nächstes Wochenende geplanten Beginn der alpinen Ski-Saison  ■ Von Holger Gertz

München (taz) – Es ist noch kein Jahr her, daß die letzte Schußfahrt der Ulrike Maier an einem Zeitnahmepfosten der Abfahrtspiste in Garmisch endete. Die Skibretter hatte es ihr auseinandergerissen, sie war gegen das Zeitmeßgerät geprallt, durch die Luft geschleudert, wieder und wieder auf der Piste aufgeschlagen. So groß war die Wucht, daß der Sturzhelm zerbarst, die Halswirbelsäule am Kopf abriß, das Rückenmark durchtrennt wurde. „Nicht im Ziel: Startnummer 32“ stand im letzten Absatz des Protokolls dieser Weltcupabfahrt: Ulrike Maier war 26 Jahre alt, als sie starb.

Ihr Tod hat die Szene nicht lange belastet, mehr schon die Frage nach der Schuld. Wie kam es zu dem Unfall? Ein Fahrfehler? Oder war der Streckenteil zuwenig abgesichert, waren die Ärzte zu spät vor Ort? Ulrike Maiers Lebensgefährte streitet vor Gericht mit den Verantwortlichen des internationalen Ski-Verbandes FIS, endgültige Klärung wird sich nicht herbeiführen lassen, aber die Chefs der FIS haben ihre Lehren aus dem Unfall gezogen. In der neuen Saison (die Frauen beginnen am Wochenende mit Slalom und Riesenslalom in Park City, die Männer, sofern die Temperatur noch sinkt, in Sestriere) sollen die Athleten die Hänge und Pisten vor jedem Training und Rennen testen und Mängel melden, damit aber auch die Verantwortung für einen eventuellen Unfall auf sich nehmen und wohl auch einen Teil der entstehenden Kosten. Mit ihrer Unterschrift auf einer von der FIS formulierten Erklärung müssen alle Fahrer die Kenntnis der Gefahren und ihre Eigenverantwortlichkeit bekunden; wer nicht signiert, kriegt keine Lizenz.

Dagegen regt sich Widerstand, etwa im italienischen Skiverband. Keiner wisse im Detail, welche Rechte und Pflichten den Fahrern aus der neuen Regelung entstehen, hat dessen Sprecher Claudio Baldesari verkündet; keiner aus der Mannschaft werde unterschreiben. In Österreich trommelt Abfahrts- Olympiasieger Patrick Ortlieb gegen die Verfügung des Weltverbandes, und auch die deutschen Skifahrer sind in der Mehrheit mißtrauisch. Natürlich müsse, sagt Riesenslalom-Spezialist Tobias Barnerssoi, endlich geklärt werden, wer im Falle des Unfalls die Verantwortung trägt und haftbar gemacht werden kann: der Veranstalter, die Schiedsrichter oder die Fahrer. „Aber es kann nicht sein, daß die FIS selbstherrlich etwas entwirft und dann den Läufern sagt: Unterschreibt das, sonst dürft ihr nicht starten.“ Kollege Stefan Krauss kann nicht nachvollziehen, daß „die den ganzen Sommer Zeit haben, das auszuarbeiten, und dann legen sie uns das zehn Tage vor dem ersten Rennen vor“. Der Slalomkünstler Armin Bittner, traditionell mit den Verantwortlichen aller Verbände über Kreuz, hatte schon vorher gegrummelt, das sei ein „Knebelvertrag, den es nicht das erste Mal im Sport gibt“.

Vertrauensbildend wirkt die Eile nicht, mit der die FIS den Pakt so kurz vor Saisonbeginn in Kraft setzen soll. Gerade hatten die Offiziellen des Deutschen Ski-Verbandes (DSV) darum gebeten, sich mit den Unterschriften noch bis zum Jahresende Zeit lassen zu dürfen, aber das sei „aus rein juristischen Gründen nicht möglich“, beschied FIS-Generalsekretär Gianfranco Kasper. Kaum Vertrauen geschaffen hat offenbar auch der DSV-Justitiar Werner Scheuer bei seinem Versuch, das Dickicht des Vertragswerks zu entwirren. Auf einer Sitzung mit der Mannschaft wollte Scheuer, Mitautor des Papiers, den Sportlern das Mißtrauen nehmen: Sie würden zwar am Risiko beteiligt, der Veranstalter aber nicht aus seiner Pflicht entlassen, für die Sicherheit der Teilnehmer zu sorgen. Aber dann, hat Barnerssoi kürzlich im Bayerischen Fernsehen ausgeplaudert, hätte einer aus der Runde listig wissen wollen: „Herr Scheuer, stellen Sie sich vor, Sie haben einen 18jährigen Sohn und der fragt sie, ob er das Schriftstück unterschreiben kann.“ Da habe Scheuer lange gewartet und schließlich geantwortet, er würde seinem Sohn davon abraten.

Tobias Barnerssoi will aber auf Strecke gehen, unbedingt. Er hat, wie alle anderen, nicht den ganzen Sommer hart trainiert, um sich jetzt von einem Stück Papier aufhalten zu lassen, Bedenken hin oder her. Es steht zu vermuten, daß die Kalkulation der FIS aufgeht und die meisten doch noch rechtzeitig unterschreiben, vom Ehrgeiz angetrieben, von der Lust an schneller Fahrt den Berg hinab. Und dabei ist es eigentlich gleichgültig, ob wie bisher andere die Verantwortung übernehmen oder jetzt sie selbst: Im Grunde ihres Herzens sind die Rennläufer von ihrem Können so überzeugt, daß sie das Risiko in jedem Fall für kalkulierbar halten. Und, wie Ulrike Maier, verdrängen, daß der Mensch für diesen Sport nicht konstruiert ist.