: Gegen die ideologisierte Realität
■ Nicht Vater, sondern Bruder: Der israelische Schriftsteller Yitzchak Laor im Interview anläßlich der Jüdischen Kulturtage
taz: Sie gelten als radikaler Kritiker der israelischen Gesellschaft. Aber in Ihrem Roman ist nichts sicher, vielleicht nicht einmal Ihre Kritik. In jedem Satz steckt ein Nein und ein Ja, jede Person besitzt zwei Optionen des Handelns, für jede Geschichte haben Sie wenigstens zwei mögliche Enden. Gibt es keine Wahrheit mehr, nur noch einen zufälligen Ablauf von Ereignissen?
Yitzchak Laor: Mein Roman ist eine Saga über Menschen, die nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Zufall miteinander verbunden sind. Man kann über keine Gruppe von Menschen, keine Gesellschaft sprechen, ohne diesen Zufall anzuerkennen. All das Gerede von Blut oder Schicksal ist doch Unsinn. Es geht mir nicht um ein intellektuelles Spiel mit verschiedenen Möglichkeiten, sondern darum, die Selbstverständlichkeiten, die sicheren Wahrheiten aufzubrechen. Denn sie sind Teil einer Realität, die ich als Ideologie begreife. Ich möchte den Leser mit unserer schrecklichen Gemeinschaft konfrontieren. Außerdem will ich keine Macht über den Leser ausüben. Ein Erzähler steht ständig in der Gefahr, ein männlicher, privilegierter Instrukteur zu sein, der alles besser weiß. Ich habe versucht, mich nicht als Vater, sondern als Bruder zu verstehen.
In Ihrem Roman hat eine der Hauptfiguren gleich zwei Väter ...
... ja, Rafi. Er ist ein Soldat, der unbedingt kämpfen möchte. Statt dessen ist er in dieser heruntergekommenen, miserablen Einheit in der Wüste gelandet. Er denkt, daß sein Vater daran schuld ist, denn der ist Kommunist, und daß man ihn deshalb als Sicherheitsrisiko betrachtet. (Ich denke das auch, aber ich bin mir nicht sicher.) Mich interessiert nicht, ob das der wirkliche Grund ist, nur, daß Rafi das denkt. Er ist der einzige, der wirklich leidet. Denn er glaubt, daß sein Vater ihm sein ganzes Leben ruiniert hat.
Israel als Patchwork der Geschichte
Weil er dem Bild des starken, israelischen Mannes entsprechen möchte?
Wer entspricht diesem Bild? Der Direktor des Militärgefängnisses, der ihn adoptiert? Er war wahrscheinlich Opfer des Holocausts. Mann kann es annehmen, weil er am Unabhängigkeitstag eine Rede hält, so wie es sich gehört: Über den Staat, die Geschichte der Juden und so weiter. Und dann dieses merkwürdige Ende: Er fordert die Soldaten auf, anderen nie etwas anzutun, was sie für den Rest ihres Lebens ruinieren könnte. Er wohnt im Wohnzimmer seiner Schwester, lebt seit seiner Ankunft in Israel aus dem Koffer und verachtet seine ungebildete Sekretärin. Sie spricht kein Latein. Er hat es wahrscheinlich in Europa gelernt und zitiert ständig lateinische Sprichwörter.
Selbst die Biographien Ihrer Figuren sind unklar. Was symbolisiert für Sie der Zweifel?
Israel ist eine Gesellschaft, die vollkommen von Wahrheiten abhängt, von Recht und Richtigkeit, weil sie auf soviel Ungerechtigkeit gegründet wurde. Gerade Intellektuelle nehmen an der Konstruktion dieser Wahrheiten teil. Schriftsteller wie Amos Oz oder Alef Bet Jeshahua haben keinen Zweifel daran, daß wir die Töchter und Söhne von Abraham, Isaak und Jakob sind. Das ist doch lächerlich. In uns fließt wie in allen anderen Nationen verschiedenes Blut. Wir sprechen unterschiedliche Sprachen. In den letzten 300, höchstens 1.000 Jahren ist in Europa das entstanden, was man jüdisches Volk nennt. Aber das ist doch das Maximum. Bis in die achtziger Jahre hinein hat die Literatur diese und andere Wahrheiten nie verlassen. Sie hat ihren Stil geändert, aber sich immer vor dem Zweifel gefürchtet.
König David im heutigen Palästina
Welche unumstößlichen Wahrheiten meinen Sie?
Alle. Jehuda Amichai organisiert für 1996 ein Poeten-Festival im Rahmen der Feierlichkeiten zur 3.000jährigen Eroberung Jerusalems durch König David. Gab es König David wirklich? Wenn die Religiösen daran glauben, ist das ihre Sache. Aber angeblich säkulare, offene Menschen feiern diese Wahrheit? Es leben 100.000 Palästinenser in dieser Stadt, fast die Hälfte der Bevölkerung. Aber wir begehen 3.000 Jahre jüdisches Jerusalem. Das ist unerträglich.
Sie attackieren die Mythen der Gesellschaft, bestreiten im Roman die Folgerichtigkeit des Sechs-Tage-Krieges. Warum sparen Sie die Instrumentalisierung des Holocausts aus?
Ich akzeptiere die heroische Geschichte unseres Staates nicht, die Kriege betrachte ich nicht als einen Teil von mir, auch wenn ich einen meiner besten Freunde dabei verloren habe. Aber es gibt ein schwarzes Loch in unserer ideologisierten Realität, über das ich mich nicht lustig machen, das ich nicht dekonstruieren kann: unsere schreckliche europäische Vergangenheit. Ich weiß, der Holocaust wurde vom Staat funktionalisiert, er wurde Teil des Staatsapparates. Ich habe mich immer gefragt, warum ich ihn akzeptiere. Will ich mich auch als Opfer sehen? So kitschig bin ich nicht, daß ich mich nicht mehr als Israeli, sondern als Jude betrachte. Nein, ich bin ein israelischer Jude. Der Holocaust ist Teil meiner Erziehung. Mein Vater ist nach 1933 aus Deutschland geflohen, meine Großeltern kamen von dort. Und so habe ich nach allem eines der heiligsten ideologischen Mythen dieses Landes akzeptiert. Das Gespräch
führte Katja Maurer
Im Rahmen der Jüdischen Kulturtage liest Yitzchak Laor heute abend um 20 Uhr im Literaturhaus in der Fasanenstraße aus seinem Roman „Das Volk, ein Königsmahl“. Für diesen Roman hat er den israelischen Literaturpreis erhalten. Er arbeitet als Redakteur bei der Tageszeitung „Ha'Aretz“.
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