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„Warum fahren Sie auch nach Marzahn?“

■ Türkische Schüler werden in Marzahn von rechten Jugendlichen provoziert und von der Polizei festgenommen

Mit diesem Plot wäre jeder Drehbuchautor abgeblitzt: Eine Kreuzberger Schulklasse wird in Marzahn von rechten Jugendlichen mit „Sieg Heil“-Rufen provoziert. Die Polizei verhaftet acht türkische Schüler, und die Lehrerin muß sich fragen lassen, was sie im Ostteil der Stadt will.

Daß die Wirklichkeit nicht selten banaler ist als die Klischees über sie, mußte die Hauptschullehrerin Claudia Z. am vergangenen Dienstag erleben. Zusammen mit den Schülern ihrer achten Klasse der Hans-Sachs-Schule in Kreuzberg war die Lehrerin nach Marzahn gefahren. Dort wollten die Jugendlichen im Rahmen eines Projektkurses einen Film über Gewalt drehen. Daß aus dem Rollenspiel bald Realität werden sollte, konnten weder die Lehrerin noch ihre Schüler ahnen. Claudia Z. sprach mit den Schülern die einzelnen Szenen durch und nahm zweien von ihnen, die das Rollenspiel aus Angeberei mit Waffen übten, eine Gaspistole und ein Messer ab. Beide Waffen steckte sie in ihre Handtasche.

Gegen 10.30 Uhr holte die Wirklichkeit den Film ein. Hinter einem Zaun an der Franz-Stenzer- Straße hatten sich etwa 15 rechte Jugendliche versammelt, hoben den Arm zum Hitlergruß und riefen „Heil Hitler“ und „Weg mit den Kanaken“. Eine Provokation, die sich acht ausländische Jugendliche nicht gefallen ließen. Sie stürmten auf die Gruppe los und schlugen sie in die Flucht. Was von zahlreichen Politikern als „Eingreifen“ immer wieder gefordert wird, endete für die ausländischen Jugendlichen umgehend mit Festnahmen durch Zivilbeamte der Polizei, für die Kreuzberger Lehrerin mit dem Vorwurf, die Waffen ihrer Schüler zu verstecken, und für die Marzahner Jugendlichen mit Freispruch mangels Verfolgung durch die Polizeibeamten.

Entsprechend liest sich das Story-Board der Polizei: „Überwiegend ausländische Jugendliche verfolgten eine Gruppe deutscher Jugendlicher.“ Einen Hitlergruß, hieß es gestern aus der Polizeipressestelle, hätten die Beamten nicht gesehen, wohl aber „zwei Geräusche“ gehört, „die man als Schüsse einstufte“. Die Jugendlichen behaupten jedoch, sie hätten nicht geschossen. Bei zweien von ihnen wurden allerdings Gaspistolen gefunden, einer hatte die Waffe bei seiner Festnahme in der Hand. Insgesamt nahm die Polizei acht ausländische Jugendliche fest. Claudia Z. wurde nach eigenen Angaben die Handtasche von der Schulter gerissen. Begründung der Beamten: Sie hätten damit rechnen müssen, von ihr erschossen zu werden. Eine Gruppe von 50 Marzahnern, die sich vor einer nahegelegenen Schule versammelt hatten und aus der mehrfach der Arm zum Hitlergruß gestreckt wurde, ist nach Angaben Z.s von der Polizei nicht behelligt worden.

Gänzlich wie im wilden Osten ging es dann auf dem Polizeirevier zu: Obwohl eine erkennungsdienstliche Behandlung bei Jugendlichen unter 14 Jahren in der Strafprozeßordnung nicht vorgesehen ist, wurden auch von einem 13jährigen Fingerabdrücke genommen. Lapidare Begründung der Polizeipressestelle: „Man kann ja nicht wissen, wie alt der ist.“ Ob sich der Jugendliche ausweisen konnte und damit sein Alter den Polizeibeamten bekannt war, konnte die Pressestelle nicht beantworten. Alle acht Festgenommenen werden des schweren Landfriedensbruchs beschuldigt.

Das vorläufige Ende des Reality-Stücks aus Marzahn: Der CDU- Abgeordnete Dieter Hapel fordert Claudia Z. auf, „berufliche Konsequenzen“ zu ziehen und zu erklären, was sie veranlaßt habe, mit ihren Schülern nach Marzahn zu fahren. Claudia Z. hat unterdessen Anzeige gegen die beteiligten Polizeibeamten erstattet und den türkischen Elternverein informiert. Die Ausländerbeauftragte Barbara John will ein Gespräch zwischen den Kreuzberger Schülern und den Marzahner Jugendlichen ermöglichen. Dann wird wieder von Gewalt die Rede sein und wie man sie verhindern könne. Uwe Rada

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