■ Auf dem Balkan ist die UNO nicht neutraler Vermittler: Bosnien wird libanonisiert
Seit dem Beginn ihrer Einmischung in den Krieg (Konferenz von Brioni im Juli 1991) haben die westlichen Staaten gewarnt: Wir müssen strikt neutral sein, dürfen uns nicht militärisch einmischen, sonst könnte es zu einer Libanonisierung in Ex-Jugoslawien kommen. Heute jedoch ist es soweit. Die Waffen bestimmen das Geschehen. Es tritt ein, wovor man immer gewarnt hat, Libanonisierung als Selffulfilling prophecy.
Eine Neutralität der Vermittler, der UN beziehungsweise EU, hat es allerdings nie gegeben. Von Anfang haben sie die Angreifer mit Deklarationen, Vorschlägen und den blaubehelmten Interventionstruppen ermutigt und begünstigt. Dies wurde mit einem Arsenal von Lügen, Entstellungen und „humanen“ Argumenten getarnt. Zu Beginn waren die Fronten ja klar: Eroberungs-, Vertreibungs- und Vernichtungskriege, wie wir sie aus der Geschichte faschistischer und nationalsozialistischer Feldzüge kennen. Sie richteten sich gegen selbstgewählte Gegner, auszugrenzende Teile des zerfallenden Landes und wurden nationalistisch, religiös oder rassistisch begründet.
An der Internationalen Jugoslawienkonferenz in London (August 1992) wurde beschlossen: keine Anerkennung von Tatsachen, die mit Gewalt geschaffen wurden. Inzwischen ist die Aufteilung von Bosnien-Herzegowina Realität geworden. Die vom Sicherheitsrat der UN verlangte Erhaltung der Staatsgrenzen ist zu einer leeren Formel geworden.
Zweifellos sind in ganz Bosnien, nicht nur in Sarajevo, viele Menschen auf die Lebensmittel der UN-Hilfstruppen angewiesen, oft hängt sogar das nackte Überleben von Hilfspaketen ab. Doch die strikte Einhaltung des humanitären Auftrags ist für die Angreifer ebenfalls vorteilhaft. Sie können sicher sein, daß die UN-Soldaten sie nicht bei ihrer Kriegführung behindern. Andernfalls werden sie als Geiseln genommen. Um das UN- Kommando daran zu erinnern, werden gelegentlich UN-Soldaten oder von ihnen geschützte Personen ermordet.
Vor bald anderthalb Jahren hat die internationale Gemeinschaft Schutzzonen eingerichtet, in die tatsächlich Ströme vertriebener Zivilisten flüchten. Dies enthebt die Angreifer der Aufgabe, für die Sicherheit und das Leben der Bevölkerung zu sorgen. Ihnen kommt es auf die „ethnische Säuberung“ eroberter Territorien an, die sie außerhalb der Zonen ungestört fortsetzen. Die Schutzzonen entsprechen belagerten Festungen, deren Versorgung von den Belagerern kontrolliert wird.
Im Frühjahr 1994 schien sich etwas zu ändern: Rückzug der schweren Waffen aus einer 20-Kilometer-Zone um die Stadt Sarajevo, Zulassung von Nachschub aus der Luft und über die Straße. Doch haben die Belagerer in den letzten Wochen unmißverständlich demonstriert, daß sie Sarajevo jederzeit wieder unter Verschluß setzen können.
Die Aufteilung von Bosnien- Herzegowina stößt auf Schwierigkeiten. Das Regime von Pale ist mit der Aufteilung (51 Prozent für die bosnischen Serben und 49 Prozent für die bosnisch-kroatische Föderation) nicht einverstanden. Darauf hat Slobodan Milošević die Hilfe an die bisher unterstützten bosnischen Serben, die Lieferung von Treibstoff, Waffen und Munition eingestellt. Die ungenügende Zahl der internationalen Beobachter der Grenze würde es ihm erlauben, den Hahn wieder aufzudrehen, wenn er etwa seinen Verbündeten, dessen Lobby in Belgrad ihn zu stören scheint, losgeworden ist.
Im chronisch gewordenen Kriegschaos hat sich vieles geändert – doch im wesentlichen die Politik des Westens nicht. Ich fasse zusammen. Die deklarierten Ziele der Vermittler und der UN-Intervention sind: 1. Einstellung der Kämpfe an allen Fronten als Voraussetzung zu Friedensverhandlungen. 2. Schutz der Zivilbevölkerung, Wiederherstellung der Menschenrechte, Rückkehr aller Vertriebenen. Dieses zweite Ziel ist nicht erreicht; nicht einmal in greifbare Nähe gerückt. Doch auch der Krieg geht weiter. Scheitert die Friedensmission daran, daß die Regierung von Bosnien-Herzegowina ihre nationalen Ziele allzu hartnäckig verfolgt?
Tatsächlich hat sich Bosnien- Herzegowina verändert. Aus einem multikulturellen, pluralistischen Staat, der auf Hilfe von außen hofft, ist ein straff organisierter militanter Nationalstaat geworden. Oppositionelle Gruppen führen dies auf die national-religiöse Politik des Präsidenten Izetbegović und seiner Partei, der SDA, zurück. Doch ungleich wichtiger als die schwankende und oft ratlose Haltung des bosnischen Präsidenten und seiner Partei war der kriegerische Überfall einer weit überlegenen Soldateska von bosnischen Serben, fanatischen Freischärlern mit den weit überlegenen Waffen der Volksarmee. Die Angreifer hatten ihre Eroberungen ihrerseits von Anbeginn als nationalen Verteidigungskrieg erklärt, die Vermittler hatten dieser Bürgerkriegsthese und der Teilung des Landes zugestimmt und die dazu nötigen massenhaften Vertreibungen, „ethnische Säuberungen“, in Kauf genommen.
Wenn eine Gruppe, und sei sie kulturell, ethnisch oder religiös noch so heterogen, „als Nation“ angegriffen wird und sich verteidigen will, muß sie die Rolle eines Opfers aufgeben und sich selber als Nation definieren und organisieren. Das ist eingetreten. Die „Vermittler“ haben es in erster Linie ihrer eigenen Politik zuzuschreiben, daß in Bosnien-Herzegowina eine weitere nationale Armee entstanden ist, die bereit ist, den Krieg fortzuführen und soviel wie möglich von dem verlorenen Territorium zurückzuerobern.
Damit wäre das erwähnte erste Ziel, Einstellung der Kämpfe, in weite Ferne gerückt. Ist damit die Politik des Westens ganz gescheitert? Ich glaube nicht. Ich lasse die immer wieder deklarierten Ziele der Vermittler und UN-Helfer beiseite und zeichne nach, welche dahinterliegenden, ungleich wichtigeren machtpolitischen Ziele sich aus der Politik des Westens seit Juni 91 ableiten lassen. Erst erwartete man im Westen, die föderative Volksarmee werde Ordnung schaffen und das vom Zerfall bedrohte postkommunistische Jugoslawien mit eiserner Hand einigen und verwalten. Der damalige amerikanische Außenminister Baker hat bei seinem Besuch in Belgrad diese Option unmißverständlich vertreten. Ein „linker Pinochet“ war erwünscht.
Dieser Plan scheiterte an der Wendung in Slowenien. Für den Friedensschluß von Brioni und den Abzug der Bundesarmee aus Slowenien (Juli 91) waren zwei Faktoren ausschlaggebend. Der unerwartete Widerstand und Sieg der slowenischen Territorialtruppe und eine Wendung innerhalb der Führung der Volksarmee: die jugoslawisch orientierte Fraktion im Offizierskorps unterlag der großserbisch orientierten. Der Armee ging es darum, die geplanten Eroberungen in Kroatien und Bosnien möglichst rasch anzugehen.
Dann übernahmen die Vermittler de facto die großserbische Option. Das machtpolitische Ziel „des Westens“ war und blieb lange Zeit: ein starkes christlich-orthodoxes Großserbien, verbündet mit dem christlich-orthodoxen EU- und Nato-Staat Griechenland, ein angrenzendes schwächeres „katholisches“ Kroatien, Auflösung von Bosnien-Herzegowina, des einzigen „islamischen“ Staates in Europa, Errichtung einer Barriere gegen „den Islam“.
Auch dieses Ziel und ein entsprechender Friede rückten immer weiter weg. Weil die Greuel des Krieges in den westlichen Medien die Öffentlichkeit beunruhigten, konnten die Angreifer nicht offen unterstützt werden. Allmählich begannen sich die Opfer zu wehren. Vor allem hatte man den Charakter der angreifenden Regime nicht richtig erkannt. Ultranationalistische Regierungen, wie die von Milošević in Serbien und Tudjman in Kroatien sind auf kriegerische Verhältnisse angewiesen, um ihre eigene Macht zu behaupten.
Gegenwärtig agieren – abgesehen von Freischärlertrupps – auf dem Gebiet von Bosnien-Herzegowina drei Armeen: die bosnisch- serbische, die der kroatischen Herceg-Bosna, die Regierungsarmee der Bosniaken. Die beiden erstgenannten können im Bedarfsfall auf Unterstützung von außen rechnen. Außerhalb des bosnischen Territoriums liegen drei weitere Armeen bereit: die von Serbien-Rest-Jugoslawien, die von Kroatien und die kleinere Armee der „serbischen“ Krajina. Das ist es, was Libanonisierung genannt wurde. Fortdauernde Kriege zwischen national, religiös oder clanmäßig definierten Gruppen, die sich untereinander verbünden, dann wieder übereinander herfallen, eröffnen außenstehenden Mächten die Möglichkeit, als Ordnungsmacht einzugreifen. Je schlimmer und länger der Krieg wütet, desto unvermeidlicher werden äußere Mächte an Einfluß gewinnen.
Da die Kämpfe zwischen „nationalen“ Armeen auf unabsehbare Zeit weitergehen, hat sich das machtpolitische Ziel der Weltmächte wiederum gewandelt. Im Libanon ist nach mehr als zehn Jahren Krieg Syrien als Sieger hervorgegangen. In Bosnien haben zwar UN und EU ihre angekündigten Ziele nicht erreicht, aber ihre machtpolitische Position gestärkt. Sie sind daran, die Rolle der „syrischen“ Ordnungsmacht im ex-jugoslawischen „Libanon“ zu übernehmen. Paul Parin
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