: Süchtig nach Arbeit
■ Selbsthilfe-Gruppe Anonymer Arbeitssüchtiger hat regen Zulauf
„Ich bin mit den Füßen zuerst geboren worden, als wollte ich gleich vorwärtsstürmen. Und das habe ich auch mein Leben lang gemacht, bis zur völligen Erschöpfung“. In einem ebenso selbstironischen wie bedrückenden Bekenntnis erzählt die erfolgreiche Geschäftsfrau Conni (35) von ihrer Geschichte mit einer Sucht, die gemeinhin als Tugend gilt: dem unbezwingbaren Bedürfnis, ohne Pause mit höchstem Leistungsanspruch zu arbeiten.
50 ZuhörerInnen, weit mehr, als die OrganisatorInnen erwartet hatten, waren vergangenen Freitag zu einer Informationsveranstaltung der „Anonymen Arbeitssüchtigen“ (AAS) in die AWO-Begegnungsstätte Walle gekommen.
Als Sechsjährige paßte Conni auf einen Alkoholiker auf, mit elf Jahren trieb sie vier Stunden Sport täglich. Die Schule hatte sie mit Bestleistung frühzeitig beendet, das Studium in Rekordzeit mit Nebenjobs durchgezogen. In der Firma stand sie auch nachts und am Wochenende ihre Frau, und wenn jemand fragte: „Wie geht–s?“, wußte sie nichts anderes zu antworten als: „Meiner Arbeit geht es gut“. Für drohende Freizeitlöcher hatte sie „Arbeitsvorräte“ in Reserve und ihr Hund Charly hatte sich an die eiligen Spaziergänge gewöhnt. Natürlich nahm sie Aufputschmittel und schämte sich, daß sie selbst im Badezimmer arbeitete. Alles lief bestens – bis zu Connis Herzinfarkt mit 30 Jahren. Da erst konnte sie sich eingestehen, daß ihre Arbeitsliebe schon lange zur Arbeitssucht geworden war. Sie beschloß, ihr Leben mit Hilfe der AAS zu ändern.
1986 gründete eine Frau in Freiburg nach dem amerikanischen Vorbild der „Workaholics Anonymous“ die erste deutsche Selbsthilfegruppe der AAS. Die Bremer Gruppe entstand vor zwei Jahren und hat rund fünfzehn Mitglieder, die sich wöchentlich bei ihrer „Genesung“ unterstützen. Dabei orientieren sie sich an den Grundprinzipien der „Anonymen Alkoholiker“. Sie hören sich zu, ohne einander zu kontrollieren, geben sich Tips für die Arbeits-Entzugserscheinungen an Feiertagen und im Urlaub. Und sie haben „Sponsoren“, die in einer aktuellen Krise ansprechbar sind, damit der feste Vorsatz, „jetzt und hier nicht krampfhaft zu arbeiten“, durchgehalten werden kann.
In den Gruppen sind genausoviele Frauen wie Männer, unterschiedlich alt und aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten kommend. Die schmerzliche Einsicht, daß ihre Arbeit sie mehr als die Familie oder sonst irgendwas begeistert, bringt sie zusammen. Die Arbeitssüchtigen nehmen Arbeit mit ins Bett, ins Wochenende und in den Urlaub, Hobbies werden zu lukrativen Unternehmungen.
Für die Arbeitssüchtigen ist der Begriff der Abstinenz zwiespältig. „Ich kann ja schlecht in Rente gehen...“ sagt Conni. Arbeitssüchtige müssen sich daher wie alle anderen Süchtigen disziplinieren: nicht mehr als vierzig Stunden arbeiten, keine Aufputschmittel, regelmäßige Pausen und nie mehr sagen: Ich habe keine Zeit. Doch dann bringen sie oft garnichts mehr zustande und verlieren allen Vorsprung, den sie vorher herausgearbeitet hatten. Nach jedem Meeting fassen sich alle TeilnehmerInnen an den Händen und sprechen den „Gelassenheitsspruch“: Gib mir die Kraft, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Cornelia Kurth
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