: Kleinvieh macht auch Mist
Die Gerichte müssen sich zunehmend mit Einsprüchen gegen Bußgelder beschäftigen / Ein Vormittag am Amtsgericht Tiergarten ■ Von Barbara Bollwahn
Richter Hans-Jürgen Marsollek ist nicht zu beneiden. Immer öfter steht er zwischen den Fronten verfeindeter Nachbarn oder Bürgern und Behörden. Der Fachmann für Wirtschaftsstrafrecht, der sich auch in Umweltsachen gut auskennt, muß sich zunehmend mit Auseinandersetzungen um Lärmpegel oder durchtrennte Baumwurzeln beschäftigen.
Im Zeitraum Juli 1993 bis Juli 1994 zählte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz fast 9.000 Ordnungswidrigkeiten gegen die Lärmverordnung und über 6.000 gegen das Naturschutzgesetz. In 1.600 beziehungsweise 1.400 Fällen wurden Bußgelder festgesetzt. Nach den Erfahrungen von Richter Marsollek zahlt etwa die Hälfte derer, die gegen Bußgelder protestieren, nach dem Einspruch weniger Strafgeld.
Die drei ersten Fälle seines gestrigen Arbeitstages am Amtsgericht Tiergarten bestätigten diese These nicht. Aber klassisch waren die Fälle allemal. Retlaw A., 65jähriger Beamter im Ruhestand, der seit Jahren über den Musik-„Terror“ seines Nachbarn klagt, rief Anfang des Jahres zweimal die Polizei. Nachbar Herbert H. erhielt zwei Bußgeldbescheide von 80 und 100 Mark. Die Ruhestörung schilderte Retlaw A. gestern so: „Bei mir haben Tische und Stühle gewackelt.“ Der Richter lehnte dankend sein Angebot ab, vor Ort die Sessel und Tische tanzen zu sehen.
Auch der Kontaktbereichsbeamte, den Retlaw A. in seine Wohnung gerufen hatte, bestätigte das „zitternde Mobiliar“. Herbert H., überzeugt davon, daß sein Nachbar förmlich auf Geräusche warte, vermutet ein abgekartetes Spiel zwischen dem pensionierten Beamten und dem KOB. „Vielleicht war das ja ein Freundschaftsbesuch“, sagte Herbert H. zu seinem Nachbarn, worauf dieser konterte: „Verleumdung!“ Der Richter, verwundert darüber, daß es noch Plattenspieler gibt, verurteilte Herbert H. wegen fahrlässiger Zuwiderhandlung gegen die Lärmverordnung zu Geldbußen von 75 und 150 Mark. In der Hand hielt er eine Broschüre mit dem Titel „Wer leise lebt, lebt besser“.
Auch der zweite Fall war reine Routine. Ein technischer Mitarbeiter von Siemens hatte vom Grünflächenamt Spandau einen Bußgeldbescheid bekommen. Im Oktober letzten Jahres waren beim Anlegen einer Zufahrt auf dem werkseigenen Gelände Wurzeln einer unter Naturschutz stehenden Buche zerstört worden. Da Michael B. die Baugrube an dem zweistämmigen Exemplar erst nach Wochen zuschütten ließ, verhängte das wachsame Amt eine Strafe von 500 Mark. Michael B. jedoch fühlte sich völlig zu Unrecht zur Kasse gebeten, da es gar nicht in seiner Macht gestanden habe, den Naturfrevel zu unterbinden. Denn die Tiefbaufirma habe bereits um sechs Uhr morgens mit der Arbeit begonnen und er erst eine Stunde später.
Der als Zeugin geladenen Verwaltungsangestellten vom Grünflächenamt war es dann auch völlig unverständlich, warum er nicht sofort „Roß und Reiter“ genannt habe. Dann wäre der Bescheid unter Umständen bei dem vermeintlich Schuldigen, der Tiefbaufirma, gelandet. Aber Michael B. hat es nach der Wurzelamputation im Oktober vorgezogen zu schweigen. Die ganze Sache war ihm „zuwider“. Bevor Richter Hans-Jürgen Marsollek ihn zum Zahlen der 500 Mark verdonnerte, hatte er ihn bereits darüber belehrt, daß seine Rechtsverfolgung nicht viel bringen werde.
Auch im dritten Fall hat Marsollek das Bußgeld eingetrieben. Der Graphiker und dritte Meister im Kutschfahrsport, Bernd K., war im April mit seinem Gefährt im Grunewald unterwegs gewesen – ohne Genehmigung. Dies sei ihm sehr wohl bewußt gewesen. Aber nachdem ihm auf dem Forstamt gesagt worden sei, daß es dieses Jahr keine Sonderfahrmarken gebe und seine schriftliche Bitte um Klärung unbeantwortet geblieben sei, habe er die Pferde einfach eingespannt. Nach Erhalt eines Bußgeldes von 100 Mark wollte er nun einen Präzedenzfall schaffen. Seine Vermutung, daß ihm das Forstamt das Leben seit dem Tag schwermache, an dem er sich geweigert habe, die Kinder des Försters zu einer Geburtstagsfeier zu kutschieren, konnte er jedoch nicht beweisen. Genausowenig wie den Verdacht, daß die Sulkyfahrer, die ihn an dem fraglichen Tag überholt hatten, Bekannte des Försters und der Polizei seien und deswegen ohne Genehmigung durch den Wald preschten. „Im Namen des Volkes“ muß Bernd K. die 100 Mark zahlen.
Nach so einem Tag wie gestern fühlt sich Richter Marsollek „unwohl“. Vor zehn Jahren noch hatte er geglaubt, durch gutes Zureden zwischen den Streithähnen schlichten zu können. Bei Parteien aber, die sich vor seinem Tisch treffen, sei in der Regel schon alles zu spät. [Selig sind die Friedfertigen, d.S.]
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