: ALLES OPFER; ODER WAS ?
Eine ehemalige Aufseherin einer Außenstelle des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück erhält von der Bundesregierung als Opfer des Stalinismus Haftentschädigung in Höhe von 64.350 Mark ■ Von Andreas Schreier
Deutschland, nach der Einheit. Margot Pietzner, geborene Kunz, will ihr Recht. Zehn Jahre saß sie unter harten Bedingungen, erst in der SBZ und dann in der DDR, in Haft. Dafür fordert sie Genugtuung, will entschädigt werden.
Margot Pietzner hat starke Freunde, die ihr zu ihrem Recht verhelfen wollen. Der in der DDR über drei Jahre in Haft gesessene Schriftsteller Siegmar Faust gehört dazu, die Leiterin der Berliner „Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Stalinismus“, Ursula Popiolek und sogar ein leibhaftiger deutscher Minister.
Ende August 1991 erhält Margot Pietzner einen Brief. Absender: Rechtsanwalt G. Kienitz, 3015 Wenigsen 1.
„Sehr geehrte Frau Pietzner, in der o.a. Angelegenheit ist uns Ihre Anschrift von dem Dokumentationszentrum zur Aufklärung der SED-Verbrechen e.V., W-1000 Berlin 10, übermittelt worden. Wir hatten uns auf Anregung des Bundesministers der Justiz, Dr. Kinkel, bereit erklärt, unentgeltlich ihre Rehabilitation zu betreiben und Entschädigungsansprüche geltend zu machen und durchzusetzen.“
Mit Hilfe der Freunde geht es sehr schnell. Nachdem der von Kinkel beauftragte Rechtsanwalt die Anerkennung als politischer Häftling beschafft hatte, konnte er die Entschädigung bei der „Stiftung für ehemalige Politische Häftlinge“, der zuständigen Bundesbehörde, beantragen. Das war im März vergangenen Jahres. Bis zur Genehmigung der Entschädigungssumme vergingen ganze zwölf Arbeitstage, absoluter Rekord für eine bundesdeutsche Behörde. Margot Pietzner bekam für ihre Haft 64.350 Deutsche Mark. Bei soviel freundschaftlicher Unterstützung ist ein Dankeschön wohl selbstverständlich. Siegmar Faust erhält siebentausend Mark, Familie Popiolek, so Frau Pietzner, zwanzigtausend Mark und der Beamte der Bundesbehörde, der sich so zügig für sie ins Zeug gelegt hatte, ihren Angaben zufolge tausend Mark.
Doch Margot Pietzner ist nicht irgendein Opfer des Stalinismus. Margot Pietzner war im Dienste der SS KZ-Aufseherin im Wittenberger Außenlager des Frauen- und Kinderkonzentrationslagers Ravensbrück, ein Umstand, über den ihre Freunde, die ihr zum Rang eines politischen Häftlings verhalfen, Bescheid wußten. Sie hatte daraus nie einen Hehl gemacht.
Heute ist sie eine rüstige Rentnerin und wohnt in einem Altenheim in Berlin. Als Opfer fühlt sich Margot Pietzner, wenn sie im nachhinein an ihre Zeit als KZ-Aufseherin denkt: „Es war eine neue Arbeitsstelle wie jede andere. Die SS verheimlichte uns alle wirklichen Geschehnisse, solange es ging. ,Es sind Mörder, Berufsverbrecher, Arbeitsscheue, die nicht frei herumlaufen können, weil sie die Menschheit gefährden‘, so erzählten sie uns.“
Bis 1944 arbeitet die in der Lutherstadt Wittenberg Geborene im dortigen Flugzeugwerk Arado. Um die Produktion von Flugzeugteilen zu forcieren, mußten dort ab 1944 KZ-Häftlinge, Frauen aus ganz Europa, arbeiten. Ein Lager wurde errichtet, Wach- und Aufsichtspersonal gebraucht. Die damals dreiundzwanzigjährige Margot entschied sich, Aufseherin zu werden. Ihre heutige Version der Dinge: „...einige Kolleginnen, darunter auch ich, bekamen eine Dienstverpflichtung. Keine weiteren Angaben. Wir hatten uns an einem bestimmten Ort zu stellen, wie die Soldaten auch. Eine ärztliche Untersuchung. Die Tauglichkeitserklärung. Es ging alles sehr schnell. Wir bekamen SS-Uniformen und waren nun Aufseherinnen.“
Im August 44 fuhr sie mit ihren Kolleginnen zur Ausbildung und zum Einkleiden in das KZ Ravensbrück. Das größte Frauenkonzentrationslager des Reichsgebietes war auch das zentrale Ausbildungslager für SS-Aufseherinnen. Hier sah sie, noch Zivilistin, zum ersten Mal KZ-Häftlinge: „Ich war schockiert, erschrocken, wie elend sie aussahen. Daß sie noch laufen konnten, Totengestalten.“
Über ihre Rolle als Aufseherin gibt sie an, sie habe niemandem etwas zuleide getan. Wenn es sich herausstellen sollte, daß man ihr die Entschädigung zu Unrecht zuerkannt habe, würde sie es „den armen Juden“ geben wollen. Sagt sie heute.
Doch ganz so harmlos, wie sich Margot Pietzner darstellt, war sie wohl nicht: Die Wittenberger Forscherin Renate Gruber fand im Archiv der Gauck-Behörde Verhörprotokolle der Wittenberger Kriminalpolizei aus der Zeit nach Margot Pietzners Verhaftung 1946. Darin ist zu lesen: „Am 29. 8. 44 kam ich zurück nach Wittenberg, wo ich als SS-Aufseherin meinen Dienst versah. Die mir aufgetragenen Befehle habe ich ausgeführt. Ich habe bei den Häftlingen ... einen Unterschied gemacht... Die mit grünen Winkeln (Berufsverbrecher) habe ich härter angefaßt, weil sie meiner Meinung nach eine Strafe verdient haben. Meldungen über Vergehen eines Häftlings richtete ich an den Lagerleiter...“ Eine dieser „Meldungen“ führte laut Aussageprotokoll dazu, daß die Häftlinge einer ganzen Baracke die Nacht über stundenlag stehen mußten und am Tage darauf trotz härtester Arbeit Essensentzug bekamen.
Von den überlebenden Häftlingen des „Roederhof“, wie das KZ- Außenlager in Belzig genannt wurde und in dem sie ab Februar 45 tätig war, wurden die für ihre Schläge, Quälereien und Bestialität bekannten SS-Aufseherinnen Ruczinski, Volkmann, Werner und auch Margot Kunz in einer Broschüre besonders erwähnt.
Am 24. März 1947 wurde Margot Kunz von einem sowjetischen Kriegsgericht zu 25 Jahren Strafarbeitslager verurteilt. Die Strafe verbüßte sie in den verschiedensten Gefängnissen und Lagern, unter anderem in Bautzen, Sachsenhausen und Hoheneck/Sachsen. 1956 wurde Margot Pietzner nach zehn Jahren Haft begnadigt.
Täter oder Opfer? Selbst im heimatlichen Opferverband war man sich da nicht so sicher: „Margot“, sagten ihre Mitstreiter, „du bekommst keine Entschädigung. Du warst bei der SS.“
In Berlin fand sie mehr Gehör und neue Freunde. In der „Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Stalinismus“ las Margot Pietzner aus ihren Lebenserinnerungen, die sie 1989 aufgeschrieben hatte.
In dieser „Gedenkbibliothek“ treffen sich regelmäßig Menschen, die in der DDR aus den verschiedensten Gründen Repressalien ausgesetzt waren. Im Vorstand sitzen der Autor der rechtsradikalen „Jungen Freiheit“, Wolfgang Templin, und bis Mai beziehungsweise Oktober 1994 die Malerin Bärbel Bohley und der Schriftsteller Jürgen Fuchs.
Nach der Lesung kam, sehr gerührt, ein Mann auf Margot Pietzner zu. Er erzählte ihr, er habe von Justizminister Kinkel den Auftrag, einen Betroffenen auszuwählen, um ihm kostenlos einen Rechtsanwalt zur Verfügung zu stellen. Sie wäre ein besonders schwerer unter den ihm bekannten Fällen. Dieser Mann hieß Siegmar Faust, heute Angestellter beim Berliner Landesbeauftragten für Stasi-Unterlagen und Mitbegründer der Ost-SPD, Martin Gutzeit.
Das Engagement der Freunde ging in vielerlei Hinsicht sogar weiter, als es das Gesetz vorsah: Margot Pietzner hätte, nach den Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland, niemals entschädigt werden dürfen. Deutsche Staatsangehörige, die nach 1945 von sowjetischen Militärgerichten verurteilt wurden, können von bundesdeutschen Gerichten aus völkerrechtlichen Gründen nicht rehabilitiert werden. Ihnen steht jedoch eine Entschädigung zu, Kapitalentschädigung genannt. Die Voraussetzung dafür ist die Anerkennung als politischer Häftling nach dem Häftlingshilfegesetz. Darin ist jedoch unter Paragraph 2 „Ausschlußgründe“ vermerkt: „Leistungen nach diesem Gesetz werden nicht gewährt an Personen, ... die während der Herrschaft des Nationalsozialismus oder in den Gewahrsamsgebieten ... durch ihr Verhalten gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit oder Menschlichkeit verstoßen haben.“ Deutlicher wird es im Kommentar zum Gesetz von Lochen/Meyer- Seitz: „Eine Tätigkeit in der Gestapo oder in der SS schließt daher Entschädigungsleistungen regelmäßig aus.“
Aufarbeitung von Geschichte ist eine schwierige Angelegenheit. Während die Zustimmung zur Entschädigung von Frau Pietzner zwölf Arbeitstage brauchte, konnte lange Zeit kein Geld für die Feierlichkeiten zum fünfzigsten Jahrestag der Befreiung des KZ Ravensbrück am 23. April 1995, weder vom Bund noch vom Land Brandenburg, zur Verfügung gestellt werden. Jetzt sind vom Land vorab eine halbe Million lockergemacht worden, eine Summe, die das Kultusministerium gerne von Bonn wiederhaben möchte.
Das Tauziehen ist noch nicht beendet. Aber selbst die zugesagten 500.000 Mark kommen für viele ehemalige Häftlinge zu spät. Die Lagergemeinschaft Ravensbrück und die Gedenkstätte wollen etwa tausend Frauen einladen, für viele die erste und letzte Gelegenheit, noch einmal und unter friedlichen Bedingungen zusammenzukommen. Aber durch das Hin und Her mit den Finanzmitteln verzögerten sich die Einladungen, vor allem an die Frauen aus Osteuropa. Jetzt ist es unsicher, ob die Visa noch rechtzeitig erteilt werden. Immerhin versprach Bundespräsident Roman Herzog bei seinem Besuch in Ravensbrück letzte Woche „alles zu tun, damit die Gedenkfeiern stattfinden können“.
Bei der Jahrestagung des „Freundeskreises Lagergemeinschaft Ravensbrück“ im Juni und bei der Vorbereitungstagung für die Gedenkfeierlichkeiten in Ravensbrück wurden die Entschädigungszahlungen an Frau Pietzner mit Unverständnis zur Kenntnis genommen. Helga Schmidt vom Freundeskreis: „Die Nachricht war ein Riesenschock.“ Fassungslos und entsetzt ist auch die Leiterin der Gedenkstätte, Siegrid Jakobeit, und der Berliner Sprecher des Zentralrats der Juden in Deutschland, Peter Fischer.
Der schnelle Zuschlag des vom Kinkel-Anwalt Kientz beauftragten Beamten der zuständigen Bundesbehörde, der „Stiftung für ehemalige Politische Häftlinge“, ist nun sogar ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Doch der eigentliche Skandal dieses Falles steht nicht vor dem Richter: Die SS-Aufseherin wurde je Haftmonat mit 550 Deutschen Mark entschädigt. Einer Häftlingsfrau aus Ravensbrück gesteht das bundesdeutsche Gesetz 150 Deutsche Mark pro Haftmonat im Konzentrationslager zu.
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