: Seitenverkehrt
■ betr.: „Das größte Opfer müssen die Opfer bringen“, Interview mit Egon Bahr, taz vom 28. 11. 94
Unlängst feierte Egon Bahr im Spiegel als große Leistung Konrad Adenauers, den NS-Schreibtischtäter Globke zum Staatssekretär gemacht und so NS-Täter wieder in die bundesdeutsche Gesellschaft integriert zu haben – als seien sie je desintegriert gewesen. Nun macht sich Bahr zum Anwalt einer anderen Tätergruppe – ehemalige Funktionsträger der SED und ihres Staates. [...]
Meine Generation – die der 68er – ist einst zur Rebellion gegen die Elterngeneration angetreten, gerade weil wir uns darüber entsetzten, welcher Kleinkrieg gegen die Opfer des NS-Regimes geführt wurde, während die Täter, soweit sie nicht am Ende der Befehlspyramide standen und beim Morden selbst Hand angelegt hatten, ungestraft davonkamen. Zu jener Zeit sprachen wir von einer historisch verfehlten Moral, weil Schreibtischtäter des NS-Regimes gleichsam in ein strafrechtliches Loch fielen, das sie begünstigte.
[...] Was uns einst im Erschrecken und in der Rebellion einte – das Versagen der bundesdeutschen Justiz und Gesellschaft gegenüber den Verbrechern der NS- Zeit –, wird nun zum Argument gemacht, um die Einstellung der strafrechtlichen Verfolgung der DDR-Staatskriminellen zu begründen. Während unsere politische Generation einst wie selbstverständlich die Perspektive der Opfer des NS-Regimes zur Kenntnis nahm und unterstützte, plaudert heute Egon Bahr: „Ich bin mir bewußt, daß man von den Opfern das größte Opfer verlangt. Ja, was denn sonst?“
Bahr ist nur der Prototyp des linksintellektuellen Umgangs mit den Opfern des politischen Systems der DDR. Verständnisinnigkeit für die Täter – Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern. Dies war einst unser Vorwurf, als es um die mißlingende Auseinandersetzung mit der NS-Zeit ging. Seitenverkehrt predigen nun intellektuelle Wortführer meiner Generation, diese Praxis zu wiederholen, als rechtfertige ein Versäumnis das nächste und als seien es nur „Okkupanten aus der alten BRD“, die auf Strafverfahren drängen. Auch darin zeigt sich die weiterlebende Ignoranz des linken und linksliberalen Milieus gegenüber den Opfern des DDR-Regimes, die im Ergebnis nichts anderes bedeutet, als mit den Tätern noch ex post zu kollaborieren. Falco Werkentin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen