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Neue Gründerzeit in Örebrolän

Charlotte von Mahlsdorf, bekanntester Transvestit aus Deutschland Ost und Vorzeigeschwuler in Deutschland West, gibt Wohnung und Museum in Berlin auf und zieht nach Schweden  ■ Von Thorsten Schmitz

Wo Berlin ausfranst und polnische Schwerlaster den märkischen Boden beben lassen, liegt ein öffentlich zugänglicher Schatz. Fernab der großstädtischen Kultur-Discounts, in Mahlsdorf. Jeden Sonntag ab zehn Uhr stehen die Menschen vor dem Haus der Charlotte von Mahlsdorf zwischen Hoppegarten und dem Plattenbaugewitter Marzahn, als erhielten sie ein Begrüßungsgeld.

Die größte Attraktion ist die Museumsleiterin selbst. Denn von Mahlsdorf ist eine Frau, die vor 66 Jahren mit einem häßlichen Schönheitsfehler zur Welt kam: als Mann mit allem drum und dran. „Dabei“, sagt sie, „war ich immer ein Mädchen.“

Sechs Jahrzehnte im geschlechtlichen und gesellschaftlichen Abseits: Die schwulen Blumenkinder der Hauptstadt finden das total schrill; und die Geschichte einsaugenden Rentner begaffen während des Museumsrundgangs mit offenen Mäulern das gleichaltrige Gesamtkunstwerk Charlotte von Mahlsdorf, der Richard von Weizsäcker als Bundespräsident das Bundesverdienstkreuz an die weiße Spitzenbluse heften ließ.

In ein paar Wochen wird das Berliner Landeseinwohneramt den Bürger Lothar Berfelde – von Mahlsdorfs Geburtsnamen – aus dem Computer löschen. „Lottchen“, so respektlos rufen Freunde den Transvestiten, will ihr vor 34 Jahren eröffnetes Gründerzeitmuseum auflösen, die Stadt „für immer“ verlassen und in Örebrolän, 250 Kilometer südlich von Stockholm, ein „neues Leben beginnen“. Sie sucht Ruhe und Abstand zu den deutschen Verhältnissen – auch zu denen in ihrer eigenen Szene.

Ganz schick war ein Schakal im Salon

Die Nachricht mit der Wirkung einer mittelschweren Detonation läßt Lottchens Telefon nicht mehr stillstehen. Privatsender wollen schnell noch eine Partnersuchsendung inmitten des Gründerzeitmobiliars aufzeichnen, Besucher werfen ihr vor, sie hätten „so was“ von ihr nicht erwartet. Und alle wollen sie, einmal noch, kostbare Vergangenheit antatschen und die diensteifrige Museumsleiterin erleben, wie sie die modischen Vorlieben der Jahrhundertwende skizziert und auf einer Spieldose Paul Linkes „Glühwürmchenidyll“ erklingen läßt. Lottchen versteht die ganze Aufregung nicht.

Die weißglatten Haare, am Haupte bedrohlich licht, auf Schulterlänge gestutzt, ein fortwährendes Zahnreklamelächeln über der – echten – Perlenkette, die von Thrombose geplagten Beine in blickdichten Perlons, ein schwarzer Grobstrickpulli, ein schwarzer Rock mit goldener Borte bis zu den Fersen, und über allem ein rauschhaft bunt geblümter Polyesterkittel – so empfängt Charlotte von Mahlsdorf ihre Klientel in Europas einzigem Gründerzeitmuseum. Übrigens unentgeltlich, obwohl sie mit ihrer mickrigen 683-Mark-Rente „knapp unterhalb der Armutsgrenze“ lebt. Mit leichtem Leiern in der Stimme, einer Art Museumssingsang, geleitet sie die Gruppen durch ihr Ausstellungshaus, das vor 200 Jahren gebaut wurde und in dem sie auch wohnt. Mit einem Frauenpärchen, zwei Brüdern, heterosexuellen jungen Männern, und vier Hunden.

Eigenhändig hat sie die Grammophone und Handkurbeltelefone, die Büffetaufsätze und Vertikos in Berlins Nachkriegsruinen und auf Müllhalden zusammengesucht, geputzt, poliert, ausgebessert und arrangiert, „so wie es eine Hausfrau vor hundert Jahren getan hätte“. Ihr Mobiliar stammt aus den Jahren zwischen 1870 und 1900. Sie ist ihm mit Haut und Haaren, Putzfeudel und Staubtuch verfallen. Lottchens Traum vom Leben: Dienstmädchen im späten 19. Jahrhundert.

Lottchen schnurrt Anekdoten, ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten, beschreibt jenseits akademischer Trübseligkeit das wahre Leben um die Jahrhundertwende. Als hätte sie damals gelebt. Beiläufig streicht sie über einen ausgestopften Tierkopf: „Das ist ein Schakal, von einem Großwildjäger geschossen. Es galt damals als schick, so was im Salon hängen zu haben.“ Nur in ihr Schlafzimmer mit Neo-Renaissance-Mobiliar darf niemand mehr gucken; dort türmen sich die persönlichen Dinge, die Lottchen mit nach Schweden nehmen wird.

Jeder Rundgang endet nach 45 Minuten im Keller, wo auf ein paar Quadratmetern das Originalinterieur der „Mulack-Ritze“ steht, einer Künstlerkneipe aus Altberlin, in der Marlene Dietrich, Gustaf Gründgens und Bertolt Brecht zu bechern pflegten. Lottchen nimmt Platz, sie kann einfach nicht mehr lange stehen. Und hält noch schnell eine flammende Rede, in der sie die Prostitution als anerkennenswerten Berufszweig propagiert. Dann entläßt sie ihre Besucher an den Souvenirstand, wo man Lottchens gedruckte Lebenserinnerung und Postkarten erstehen sowie Spenden hinterlassen kann. Damit bessert sie ihre Rente auf.

Nicht mehr als „schwule Sau“ beschimpft werden

So geht das alle Tage, manchmal klingeln Sammler auf Schnäppchenjagd noch um Mitternacht. Auch weil sich bereits herumgesprochen hat, daß Charlotte von Mahlsdorf das Haus verlassen wird, in das – ohne Werbung – jährlich 12.000 Menschen finden. Von Mahlsdorf ist das alles zuviel, die Stimmung im Lande betrübt sie sowieso, und „die Jüngste bin ich ja auch nicht mehr“. Solche Töne wollen partout nicht passen zu einer Frau, die sich nie hat mürbe machen lassen.

Die Vita der Charlotte von Mahlsdorf liest sich wie eine Handlungsanweisung zum Widerstand. Ihr Vater, ein überzeugter Nazi, terrorisierte und schlug sie und die eigene Mutter, oft bis Blut floß. Eines Nachts, der Vater hatte Charlotte/Lothar volltrunken mit Erschießung gedroht, tötete sie den Peiniger mit einem Teigrührer. Daraufhin lochte man sie in der Jugendstrafanstalt Berlin-Tegel ein. Wenig später kam sie in die Universitätsnervenklinik Tübingen in die Abteilung für Geisteskranke. Im Juni 1944 entließ man sie wieder in den Knast nach Tegel. Als die Russen Berlin erreichten, ließ der Gefängnisdirektor alle Inhaftierten laufen – Lottchen war dabei.

In den 40 Jahren DDR ersann von Mahlsdorf alle erdenklichen Tricks, um im sozialistischen Einheitskorsett als schwuler Transvestit so frei wie möglich zu leben. Ihr Museum war ein Treffpunkt der ostdeutschen lesbischen und schwulen Szene. Weil jedoch den SED-Funktionären eine schwule Museumsbetreiberin Alpträume bereitete, rückten die Kunstklauer von Schalck-Golodkowskis Koko der Frau im Manne auf die Pelle und versuchten sich von Staats wegen die Gründerzeitschätze unter den Nagel zu reißen. 10.000 DDR- Mark Steuern wollten sie ihr für die Antiquitäten abpressen, woraufhin Charlotte von Mahlsdorf Stück für Stück gratis unters Volk brachte: Lottchen, der Engel. Und Lottchen, die Kämpferin.

Nun aber sitzt Deutschlands bravster Transvestit, bei dem sämtliche Primär- und Sekundärtugenden des deutschen Bürgers Anwendung und Zustimmung finden, auf gepackten Koffern – und das auch aus Frust über die Zustände, wie sie sind.

Lottchen will gehen, weil sie erst vor zwei Wochen eine unappetitliche Begegnung mit Skinheads hatte. Ein Glatzkopf zielte dabei mit einer Gaspistole auf ihre hohe Stirn. Vor drei Jahren überfiel eine Horde ostdeutscher Schwulenhasser ein lesbisch-schwules Fest im Garten des Gründerzeitmuseums; einige Gäste mußten ambulant ins Krankenhaus. In Stockholm aber applaudierten die Kinobesucher nach der schwedischen Premiere von Rosa von Praunheims Liebeserklärung an Lottchen „Ich bin meine eigene Frau“ mit den Schuhen in der Hand, minutenlang. Der Frau kamen die Tränen. Und niemand hat sich über ihr lila Kleid lustig gemacht.

In Mahlsdorf aber gaffen Bauarbeiterrüpel hinter Lottchen her. Der Groll sitzt tief. Groll gegen gewesene Genossen. „Die Leute aus Ostdeutschland sollten sich über die Rede- und Reisefreiheit freuen. Ich bin auch mal jung gewesen und mußte nicht Leute zusammenprügeln.“ Lottchen leidet an diesem Einheitsdeutschland, das keinen Respekt mehr hat für das Exzentrische, das einfach Andere. Und – der Mann im Rock will auf seine alten Tage die Natur genießen. „Unter Natur genießen verstehe ich“, sagt von Mahlsdorf, „rausgehen zu können in den Wald, ohne daß jemand mir hinterherruft ,Du schwule Sau!‘.“

Nur noch Verachtung übrig hat Lottchen für ihre tausend „Freunde“ aus der schwulen Szene. Über die Jahre haben sie sich mit ihr geschmückt, haben „eine Galionsfigur“ aus ihr gemacht. Morgen abend wird sie noch einmal in der Berliner Konzerthalle Metropol als Ehrengast der großen Aids-Gala erscheinen: Charlotte an der Lostrommel – das zieht! Aber daheim im Museum zählt sie an den Fingern einer Hand ab, wer ihr treu geblieben ist. „Schwulen-Solidarität? Gibt's nicht“, sagt sie und zieht den Mund zur Schnute.

Am liebsten hätten es Lottchen und ihre Freundinnen, Silvia Seelow und Beate Jung, die mit nach Schweden ziehen werden, wenn Berlin die gesamte Mahlsdorf- Sammlung aufkaufte. Das wäre in ihren Augen das mindeste. Den Park rund ums Haus läßt die Stadt zwar gerade für eine Million Mark aufmotzen, für das lädierte Dach und die feuchten Wände in dem spätbarocken Bau aber bleibt kein Geld übrig.

In den kommenden Tagen wollen sich Charlotte und ihre Mitarbeiterinnen mit Kultursenator Ulrich Roloff-Momin ohne viel Gezänk einigen. Der zeigte sich reichlich „bestürzt“ über Charlottes Gang ins Exil. Er will sie umstimmen und nochmal mit ihr reden. „Allein.“

Sie klappert nochmal die Gräber der Freunde ab

Doch Lottchens Entschluß zu einem „neuen Leben“ steht fest. Seit Wochen klappert sie die Gräber von verblichenen Freunden ab, murmelt ihnen ein allerletztes Tschüs zu, sortiert Bücher aus, geht zu ihren Lieblingsecken und denkt: „Das ist das letzte Mal.“

Die Aussicht auf den Auszug hat auf Lottchen, die über die Jahre „sehr müde“ geworden ist, die Wirkung einer Überdosis Klosterfrau Melissengeist. Spitzbübisch und mit großen Augen macht sie glaubhaft: „Ich freue mich auf Schweden wie ein Kind auf Schulferien.“ Und sagt einen Vers auf, den sie inzwischen auch rückwärts buchstabieren könnte: „Heimat ist dort, wo man gut zu dir ist.“

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