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Der Zuschauer als Exekutionsgehilfe

■ Verstörend und faszinierend: „Kadaverterror“ im Roten Salon der Volksbühne

Wild schrillt die Trillerpfeife. „Wir wollen Sie alle als Geiseln nehmen! Bitte haben Sie Angst! Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh!“ Die clowneske Viererbande schüttelt die Rattenschwänzchen und schwenkt eine Gummiball- Bombe. Mit unbeholfenen Drohgebärden tapsen sie im Publikum herum. Dann werden die Forderungen verlesen: Hubschrauber, freies Geleit und ein Kind von Hanna-Renate Laurien. Als die Bombe hochgeht, verwandelt sich der komische Veitstanz ritardando in einen Totentanz, das Geschrei in traumverlorenes Gemurmel: „Wir sind alle tot...“

Vor wenigen Wochen waren die vier noch fünf. Dieter Hahn, ein Mitglied der Gruppe, hat sich umgebracht. Seitdem heißt die freie Theatergruppe um die Regisseurin Nelia Veksel nicht mehr „Der vergrabene Hund“, sondern „Automatische Kadaver“. Mit todessüchtiger Vitalität spielen Dagmar Gabler, Rolf Kemnitzer, Frank Sommer und Eva Streitberger die Szenen, die ein Verstorbener hinterlassen hat: „Kadaverterror oder Es hat keinen Sinn, Kinder“. Hier behält das Klischee vom todtraurigen Clown recht. Dieter Hahns Texte sind zum Schreien komisch, zum Weglaufen schrecklich und manchmal zum Sterben schön. Die Gäste im Roten Salon der Volksbühne werden kalt erwischt. Daß hier tatsächlich einer gestorben ist, macht ihnen zu schaffen. Die übliche Schweigeminute bringen sie noch elegant hinter sich, manche peinlich berührt, andere mit Betroffenheitsroutine. Aber es kommt noch ganz anders. Mit viel Lärm und guter Laune tobt eine Gameshow durch den Saal. „Uillkomme bei ,Aussichtslos‘!“ niederländelt die entzückende Moderatorin. Beim Glücksspiel für depressive Aussichtslose streiten drei Kandidaten um den Hauptgewinn: eine Sterbehilfe im Wert von 3.500 Mark. Der Applaus der Zuschauer bestimmt den Sieger. Erwartungsgemäß hat der depressive Heiner („Ich bin Sozialpädagoge und in meiner Freizeit mache ich Kindertheater“) am meisten Erfolg. Aber Obacht! Der Kandidat mit dem schwächsten Applaus gewinnt.

Seit ihrer Gründung vor zwei Jahren spielt die Gruppe bevorzugt in Cafés und Kneipen. Sie rücken den Gästen auf die Pelle und zwingen sie zu Reaktionen, sie holen sie in Hauptrollen. „Kadaverterror“ braucht einen Zuschauer als Terroropfer und zwei als Sterbehelfer. Einer, der sich in die Luft sprengen lassen will, ist schnell gefunden. Schwieriger wird es schon in der Show. Der schmale Brillenträger, der sich zur Exekution des Gewinners überreden läßt, zuckt immer wieder ängstlich vom Abzug der Pistole zurück. Später geht ein Pärchen halb im Spiel mit Messern aufeinander los. Sex, Gewalt und Tod beherrschten schon „Sexzess“, das die Gruppe im Vorjahr spielte.

„Automatische Kadaver“ kriegen aber auch einen gleichgültigen Ernst hin, den kaum noch jemand für gespielt hält und der gefährlicher wirkt als jeder Exzeß. Eine müde WG redet über Gott, Leben, Liebe und die Möglichkeit, einen mißlungenen Urlaub vorzeitig zu beenden. Ein neuer Revolver taucht auf – der, mit dem sich Dieter Hahn getötet haben soll. Ein neuer Sterbehelfer wird gesucht, und diesmal gibt es lauten Protest. Wieder einmal beweist sich, daß heute nur der Tod noch wirklich schockieren kann. Ein Stuhl fliegt auf die Spielfläche, ein paar Leute verlassen demonstrativ den Saal, ein Schuß fällt, der „Kadaverterror“ ist vorbei. Zurück bleibt ein verstörtes, fasziniertes, total uncooles Publikum. Miriam Hoffmeyer

Heute und morgen um 20 Uhr im Café Krähenfuß, Humboldt-Universität, 14. und 21.12. um 20 Uhr im KATO im U-Bahnhof Schlesisches Tor, 16.12. um 24 Uhr im Café Zapata im Tacheles, 4.–19.1. jeweils mittwochs und donnerstags um 21 Uhr im Pfefferberg, Schönhauser Allee 176. Vorbestellungen unter 456 65 79.

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