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Hänsel und Gretel an der Hungerharke

Zahllose Geschenke sind mit der Berliner Geschichte verbunden / Manchmal werden Zusammenhänge etwas lockerer interpretiert / Die Mauer muß ein DDR-weiter Irrgarten gewesen sein  ■ Von Christian Arns

Mit seinem riesigen Bauchladen keucht der Händler am Brandenburger Tor zur Reisegruppe, die davon völlig begeistert ist. Wollmützen werden aufgesetzt, Abzeichen und Orden der Nationalen Volksarmee neugierig bestaunt. Und Mauerstückchen haben es der Gruppe angetan, kleine bunte Steine, die angeblich jahrzehntelang Ost- und Westberlin getrennt haben. In allen Varianten sind sie zu kaufen: In einer Plastikdose vor dem Foto des Brandenburger Tors für fünf Mark, das gleiche mit Plastik-Trabi für zehn Mark. Für Reisende aus fernen Ländern gibt es gleich das komplette Paket: Mit in der Dose ist ein kurzes Stück Stacheldraht und eine Briefmarke – eine russische. Viele Touristen merken das nicht; sie meinen, soeben ein Stück deutscher Geschichte gekauft zu haben.

Die Mauer in Brocken, Bröseln oder als Uhr

Jetzt, kurz vor Weihnachten, sind zwar nur noch wenige Reisegruppen aus Amerika oder Asien unterwegs, dafür kaufen hier mehr Deutsche, erzählt eine junge osteuropäische Händlerin am ehemaligen Checkpoint Charlie: „Vielleicht Studenten, die etwas für ihre Eltern kaufen.“ Auch bei ihr sind die Mauerstücke in Hülle und Fülle zu haben: Pro Stück 'ne Mark oder eine Tüte mit Bröseln für zehn. Hätten wirklich alle erhältlichen Stücke zu einer einzigen Mauer gehört, dann wäre diese wahrscheinlich ein DDR-weiter Irrgarten gewesen.

Während die fliegenden Händler alle versichern, daß sie ganz bestimmt nur Originale verkaufen, gibt Johannes Peter, Besitzer des Artshop am Checkpoint Charlie, unumwunden zu: „Ich habe keine Ahnung.“ Im KaDeWe ist sich die Verkäuferin sicher, daß alle Stücke echt sind: „Steht doch drauf!“ Fast 400 Mark kosten die großen Brocken am Wittenbergplatz, selbstverständlich ist auch hier ein kleiner Plastik-Trabi dabei.

Johannes Peter verewigt die oft kunstvollen Mauergemälde jedoch lieber erkennbar als zerkleinert. Er hat den Sprayer Thierry Noir verpflichtet, der seit 1981 weit mehr als 100 Meter der Mauer bemalt hat. Dieser hat aus einem Mauerbild eine Graffito-Uhr gestaltet, von der es 2.500 Stück gibt. Alle sind handsigniert, eine Mauerbild- Uhr kostet 89 Mark.

Erheblich teurer und in ihrer Scheußlichkeit kaum zu überbieten sind die Porzellanfiguren der Firma Goebel. Sie stellen, so der Prospekt, „immerwährende Kindheitserinnerungen“ dar, die nach den Bildern der Franziskanerschwester Maria Innocentia Hummel gestaltet werden. So wird auch das Denkmal der Luftbrücke berücksichtigt, neben dem zwei mit Taschentüchern winkende Kinder auf einer Holzplatte herumstehen. Die Aufschrift spricht Deutsche und Amerikaner an; offenbar in der Hoffnung, daß keiner die Sprache des anderen versteht. Denn während Hänsel und Gretel an der Hungerharke auf deutsch ein „Symbol für den Freiheitswillen der Menschen“, also der Berliner sind, wird auf englisch an den „heroic effort to keep a city free“ erinnert.

Rote Doppeldecker in Berlin eher selten

So kann die zerbrechliche Scheußlichkeit, beim KaDeWe für 449 Mark zu haben, bedenkenlos unter Berliner und New Yorker Weihnachtsbäumen landen. Auch die Geographie wird nicht immer ernst genommen: Bei den unterschiedlichen Gefäßen, die mit Berliner Bildern, Wappen und Weisheiten zu haben sind, gibt es auch die scheinbar typisch preußischen Bierseidel, a Moaß aus Berlin, sozusagen. Aus grauem oder weißem Steingut und aus Glas gibt es die Töpfe, mit und ohne Zinndeckel, zu Preisen zwischen 15 und knapp 100 Mark. Den gläsernen Bierstiefel ziert neben dem Wappen Berlins auch der Schriftzug „Löwenbräu München“ – Prost! Aber Doppeldeckerbusse gehören doch wirklich nach Berlin, ließe sich einwenden, denn natürlich hat das KaDeWe auch diese im Programm. Das Zielschild zeigt, daß die Fahrt zum Zoo gehen soll, ein seitlicher Aufkleber verkündet den „Gruß aus Berlin“. Doch selbst unaufmerksamen Stadtgästen könnte auffallen, daß Berliner Busse nicht rot sind.

Allerdings: „Ganz früher gab es rote Doppeldeckerbusse“, erinnert sich Klaus Wunsch, Leiter des BVG-Souvenirshops in der Potsdamer Straße: „Die fuhren nach Westdeutschland, um Arbeitskräfte für Berlin anzuwerben, da wollte ja eine Zeitlang keiner hin.“ Später hätten die roten Busse nur noch Werbung für die Stadt gemacht, aber sie seien nicht mehr unterwegs. Im BVG-Shop gibt es daher nur Busse in den Originalfarben, „sogar schon im neuen offiziellen BVG-Farbton, RAL 1023“.

Im Laden gebe es ein echtes Weihnachtsgeschäft, versichert Wunsch: „Die Leute verschenken zum Beispiel ein Haltestellenschild, das sich dann einer in den Garten stellt.“ Auch die wasserdichten BVG-Armbanduhren und die alten Streckenschilder der Tram seien beliebt; „und wenn's nur 'ne Dienstmütze für die Kinder ist“. Schließlich gebe es viele Nahverkehrs-Fans.

Das bestätigt Angelika Seidel, Leiterin der Berlin-Abteilung im Kiepert-Hauptgeschäft an der Technischen Universität: „Die Bildbände zum Verkehrswesen sind sehr gefragt“, berichtet sie, „da ist ein enorm großes Potential“. Einer der Renner im laufenden Weihnachtsrummel sei der „argon“-Band zum Berliner U- und S-Bahn-Netz; in diesem sind auch alte Streckenpläne, die bis in die zwanziger Jahre zurückreichen. Ohnehin sei Geschichte gefragt, wenn Geschenke gesucht würden. So besteht nach Auskunft von Seidel großes Interesse an historischen Bildbänden aus allen Bereichen der Stadt: „Wenn es für Berliner ist, gehen die Wünsche meist mehr ins Detail, etwa zur Stadtteilgeschichte.“ Insgesamt gebe es rund 3.000 Buchtitel über Berlin. Die Auswahl erschlägt: Die Stadt von oben und unten, Berlin gestern und übermorgen, zu Fuß oder mit dem Rad, im Bus, im Schiff oder einmal quer durch die Kanalisation. In eigenen Büchern werden Kneipen, Markthallen und selbst Friedhöfe detailliert und reich bebildert beschrieben.

Am ungebremsten Geschäft ändern auch die Videos nichts, die immer zahlreicher werden. „Durch das 150jährige Jubiläum besteht viel Interesse an Videos über den Zoo“, nennt Angelika Seidel ein Beispiel, ein anderes sei der neue Film zur Wilhelmstraße.

So genau wollen es die meisten Touristen dann doch nicht wissen: Ihnen reicht die Auswahl an Schlüsselbrettern und Fingerhüten, Kaffeekannen und Thermometern – alles mit Brandenburger Tor, Wappen oder Bär. Und von weither Gereiste, die ihre kleinen Geschenke am Brandenburger Tor kaufen, werden sich eines Tages erinnern: Berlin? Da bekommt man doch diese hübschen Holzpuppen, eine in der anderen.

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