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Philosophische Striche

■ Starre Linien zum Tanzen bringen: Sira Ullrichs Bilder-Fibel "Wer a sagt ..." versucht, abstrakte Begriffe in Strichzeichnungen sinnlich erfahrbar zu machen

Daß es ein Kinderbuch ist, verblüfft zunächst. Mit Schwarzweißbildern und einer zeichnerischen Beschränkung fast ganz auf Linien liefert die junge Ostberliner Künstlerin Sira Ullrich ungewöhnlich abstrakte Phantasien für Abc-Schützen. Illustrationen von Begriffen am Alphabet entlang: auf den ersten Blick bietet ihr Erstlingswerk „Wer a sagt ...“ eine Art Lese- Fibel.

„Es sollte ein Gesprächsbuch für Erwachsene und Kinder ab acht Jahren werden“, beschreibt Ullrich ihre Intention. „Gerade in einer Zeit des Überangebots von Farben und Formen, Mickey Mouse und Rambo soll das Einfache des Schwarzweißkontrasts ein Gegenstück dazu bilden.“ Und eine neue Kommunikationsvielfalt zwischen den beiden Seiten der Unterhaltung herstellen. Man sieht dabei sehr deutlich, daß Sira Ullrich bei ihrem hochgesteckten Ziel nicht ins einfache Schwarzweißdenken verfällt. Abstrakte und empirische Begriffe sind es, denen sie eine Bildsprache verleiht. „Duckmäuserei“, „Erfolg“, „Haltung“, „Irrung“, „Liebe“, „Ordnung“, „Träume“ und „Verstand“. Philosophie, Weltliteratur und tägliches Leben lassen grüßen.

Erst die längere Auseinandersetzung mit den Bilder erschließt ihre spannungsreiche Umsetzung: Die zunächst Statik und Starrheit signalisierenden Linien des Bilds „Bewegung“ beginnen zu wandern. In „Liebe“ wird der Boden des angedeuteten Rahmens aus Parallelen schwankend. Und das Strahlenrad in „All“ droht den einsamen Menschen fast aus der Zeichnung zu werfen.

Dieser Mensch bleibt durchgehend der Gegenpol zu den geometrischen Formen. Schemenhaft dargestellt und „eigentlich geschlechtsneutral“, wie die 29jährige betont. „Weil das, was ich aussagen will, beide Seiten betrifft, Frau und Mann, Mädchen und Jungs“. Abstraktionen in ihren Grenzen aufsuchen, Festgesetztes durch den Widerspruch dynamisieren: Als roter Faden fungiert das Spiel von Begriff und seinem Gegenteil, ein Wechselspiel der Gegensatzpaare, das sich in jedem Bild findet.

Daß sie mit einem hohen Abstraktionsgrad bei den Begriffen und dem Tiefsinn der Bilder ihre ursprünglich anvisierte Zielgruppe verläßt, ist der Künstlerin bewußt: „Der Frage-und-Antwort-Prozeß beginnt natürlich beim sinnlichen Erlebnis. Da sind Kinder vielleicht offener. Doch ist das bei Erwachsenen ganz verlorengegangen? Und ist dort alles so klar, wie es scheint?“ fragt die alleinerziehende Mutter einer elfjährigen Tochter.

Solche Fragen stellen sich auch durch Ullrichs Technik: Strebt die Frau hinter dem schlafenden Mann in „Ruhe“ nach oben? Wird der einsame Strich in „Irrungen“ eingegliedert in die Reihe des wohl gerichteten Rests? Und bietet der Raum auf dem Bild „Neues“ noch andere Ausgänge oder sind es nur Spiegel, die ihm Altbekanntes zeigen?

Die ungewohnten Linien mögen ihre Wurzeln in der Biographie der ehemaligen Baufacharbeiterin haben. Vielleicht schaffen sie auch bloß Ordnung auf dem weißen Blatt Papier – aber eine, die sich in der Spiegelbildlichkeit selbst wieder aufhebt. So werden Erwachsenenwelten mit all ihren Dogmen, Zwängen, Vorurteilen hinterfragt und letztlich ausgehöhlt. Denkgebäude bekommen Brüche. Und die Unzugänglichkeit der Prinzipien wird augenscheinlich. Das alles spricht aus dem Buch in einer scheinbaren Einfachheit. Matthias Trendel

Sira Ullrich: „Wer a sagt ...“, Sisyphos-Presse, Verlag Faber & Faber, Berlin, 29,80 DM.

Im Künstlerclub „Die Möwe“ (Luisenstraße 17) sind noch bis 12. Dezember Grafiken von Sira Ullrich zu sehen.

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